13 September, 2020

Smoking

Theodor Beste hat den 2. Weltkrieg angefangen.

Aber das war lange vor meiner Geburt. 


Dann aber, ich war wohl damals wohl so 4-5 Jahre alt, sass ich mit meinen Eltern im Wohnzimmer unserer Mietwohnung und wartete auf Theo, wie er allgemein genannt wurde, denn Theo war unser Vermieter.
Er kam einmal im Monat um die Miete zu kassieren und Haferflocken zu bringen und eine Zigarre zu rauchen. Ein grober Typ, der Theo, großgewachsen und schlank mit einem polierten Glatzkopf und kantigem Gesicht.
Heute, knapp 60 Jahre später, sieht er, in meiner Erinnerung, so aus, wie die Neo-Nazis heute im Fernsehen.
Er zwickte mich immer in die Backe, führte ein Erwachsenengespräch mit meinem Vater und versuchte meine Mutter auszuhorchen, ob wir denn im Haushalt wirklich nichts anderes als Haferflocken benötigten. Sie verneinte mit grossem Durchhaltevermögen, beteuerte, dass wir sonst alles hätten und die Kinder seien ja noch klein und ässen so gern Haferflocken mit Milch und die Milch bekämen wir ja schon von den Ziegen vom Nachbarn gegenüber.
Theo Beste hatte nämlich noch einen Lebensmittelladen und versuchte bei seinen Mietern sich einen kleinen Zusatzverdienst zu erwirtschaften indem er sie nötigte bei ihm einzukaufen.
Alter Dreck sei das, was er verkaufe, sagte meine Mutter, wenn Theo wieder gegangen war, und teuer obendrein, der Halsabschneider, ergänzte sie … aber Haferflocken würden ja nicht schlecht … deshalb … eben … die Haferflocken. 


Dieser Kerl, der mich kniff, unser Wohnzimmer verqualmte und meine Mutter belagerte, hatte also den grossen Krieg angezettelt, von dem alle schwiegen, der gerade dadurch aber noch fast greifbar war.
Nur meine Mutter erzählte von der “schlechten Zeit” von Bomben und Hunger und von ihrem Nachbarn, dem der Kopf weggerissen wurde, weil er ihn aus dem Bunker gesteckt hatte.


So fragte ich sie eines Tages, warum die Leute damals sowas gemacht hatten.
Sie schaute mich etwas irritiert an, vielleicht hatte sie diese Frage von mir nicht erwartet oder - und das scheint mit heute wahrscheinlicher - sie wusste die Antwort nicht.
Ein sehr böser Mann, habe den Krieg angefangen, erklärte sie mir und ich glaube mich zu erinnern, dass sie weinte.


Ich kannte nur einen einzigen bösen Mann, damals: Theo Beste
Ja, ich war ganz sicher, er musste es gewesen sein, nur er hätte so etwas Furchtbares 
tun können. So stellte ich mir den Glatzkopf mit qualmender Zigarre in der einen Hand vor, wie er versuchte den Ausgebombten allen möglichen vergammelten Scheissdreck anzudrehen.


Meine Eltern rauchten beide, meine Grosseltern mütterlicherseits auch.
Der Vater von meiner Mutter ist dann an Lungenkrebs gestorben. 
Aber das war so um 1964 und niemand sah da einen Zusammenhang und alle rauchten weiter, als sei nichts passiert. 
Aber es war etwas passiert: meine Opa war gestorben, den ich sehr gern hatte.
Denn für eine Weile - es mögen wohl ein paar Wochen oder Monate gewesen sein, war ich bei eben diesen Grosseltern einquartiert. 
Die beiden kümmerten sich gut um mich, sie waren so ganz anders als meine Eltern, was ich sehr genoss. Damals war ich noch sehr jung - aber daran erinnere ich mich genau.


In der Wohnung über meinen Großeltern wohnte die Familie Mutschinski.
Vater, Mutter zwei vierschrötige, erwachsene, rüpelhafte und rumlümmelnde Söhne und eine spindeldürre, schwindsüchtig ausschauende, spätpubertäre Tochter. 
Fünf Menschen in einer Dreizimmerwohnung und alle rauchten Kette. 
Manchmal nahm mich meine Oma mit rauf zu “Muschi” wie sie Frau Mutschinski nannte. 
Dann sassen sechs qualmende Erwachsene und ich Zwerg, um den Küchentisch und sobald Einem die Zigarette zu Ende ging, steckte er - oder sie - sich mit der noch glimmenden Kippe sogleich die Nächste an.
Mutschinskis Wohnung war gelb.
Ein krankes, blasses, ins Grau changierendes Gelb, dass wie ein fetter Überzug auf Allen und Jedem lag. Der Kühlschrank war gelb, die Gardinen sowieso, die weissen Oberhemden der Jungs waren gelb, der Platte des Esstisches war gelb, das Trinkglas, in dem ich regelmäßig Apfelsaft bekam von “Muschi”, war gelb, die grauen Haare von den beiden Alten waren gelb und die langen Fingernägel des ewig hustenden Töchterleins waren gelb und ihre Zähne hinter den rot verschmierten Lippen auch. 


Meine Oma rauchte bis sie eine alte Frau war und meine Mutter hörte auf, als sie ihre erste Chemotherapie bekam, das war in den 90ern.


Als ich noch daheim lebte, war an der Aussenwand des übernächsten Hauses eine Zigarettenautomat angeschraubt. Fast abendlich drückte meine Mutter einem von uns Kindern ein paar Münzen in die Hand … ich glaube damals 2 DM … und schicke uns los um dort Zigaretten zu ziehen. 
Ja, “ziehen”, denn der Automat funktionierte rein mechanisch.
Wenn ich auf den Zehenspitzen stand und ein Geldstück einwarf, folgte ein deutlich wahrnehmbarer Klicklaut, dann dauerte es eine Sekunde, bis man hörte wie die Münze weiter nach unten fiel, ganz zum Schluss schepperte sie metallisch im Münzbehälter, man konnte sogar hören ob der voll oder leer war … das Scheppern war immer anders.
Erst dann durfte man eine der Schubladen ziehen, über denen die Schächte mit den verschiedenen Marken standen.


Peter Stuyvesant - “Mit dem Geschmack der grossen, weiten Welt” musst ich holen - nichts anderes … ich war ziemlich zuverlässig glaube ich.
Aber manchmal klemmte die Mechanik, entweder fiel eins der Geldstücke nicht in den Münzbehälter, sondern kam an der Münzrückgabe wieder raus, dann musste man es an der Aussenfläche des Automaten reiben und zwar beidseitig, der beige-gelbe Lack war an einer Stelle schon abgerieben, das blankgescheuerte Metall setzte, wegen des ständigen Gescheuers, keinen Rost an.
Oder es kam auch vor, dass die Schublade von Herrn Peter Stuyvesant sich nicht so weit raus ziehen liess, dass ich die Packung mit den Zigaretten raus bekam.
Dann musste ich meinen Vater holen, der lamentierend über alle beschissenenen Mechaniker dieser Welt neben mir her zum Automaten stapfte. 
Er hatte natürlich mehr Kraft als ich Knirps. Er riss die Schublade einfach auf und grinste mich, während er mir das Päckchen in die Hand drückte, säuerlich an.


Meine erste Zigarette klaute ich bei meiner Mutter. 
Mir war klar, ihren Vorrat an Stuyvesant hatte sie fest im Blick, aber dann schenkte ein Gastarbeiter, mit dem mein Vater sich angefreundet hatte, ihr griechische Zigaretten ohne Filter. Sie rauchte wenige davon, wohl mehr aus Höflichkeit, danach verschwanden sie in der Schrankschublade. So nahm ich dort ein paar raus, sozusagen unter ihrem Radar.


Wir - ein paar Schulkollegen und Freunde rauchten sie im Wald.
Nein, uns wurde nicht schlecht … aber es brannte im Hals … und mir schien es völlig unverständlich, warum meine Eltern das gern hatten. 


Sie, meine Eltern, rauchten auch im Auto wenn wir in den Urlaub fuhren, sie rauchten in der Küche im Wohnzimmer und ich glaube, meine Mutter rauchte sogar im Bett.
Ich habe das als Kind und junger Erwachsener immer als natürlich empfunden - man raucht halt, Punktum !


Die Betreuerinnen im Kindergarten rauchten, die Lehrer in der Schule rauchten … wohlgemerkt 
IN der Schule! Das waren die 60er Jahre.
Herr Leclerc, mein Grundschullehrer, ging paffend vom Pausenhof die Treppe nach oben und erst kurz vor der Türe zum Klassenzimmer konnte er sich nach einem letzten tiefen Zug von seiner Zigarette trennen. Er öffnete das immer selbe Fenster und warf sein Kippe 2 Stockwerke nach unten auf den Rasen, wo sich im Lauf der Zeit eine weisse Fläche aus Zigarettenpapier bildete, ausgedünnt und verstreut nur durch den Rasenmäher des Hausmeisters.


Ich rauchte nicht, bis ich mit meinem Zivildienst anfing am Ende der 70er Jahre. 
Meine ersten Versuche mit den geklauten Griechischen hatten mich für eine Weile immun gemacht. 
Während des Zivildienstes lockte aber etwas Anders, Dope.
Wir bastelten und rauchten mit Leidenschaft Joints und so kam der Tabak durch die Hintertüre wieder zu mir. Zum Glück vertrug sich Shit nicht gut mit mir, meine Erlebnisse damit wurden von Mal zu Mal grenzwertiger und so hörte ich ganz damit auf.


Der Tabak aber blieb, vor allem weil so gut wie alle Freunde rauchte. 
Wir rauchten in ihren Zimmern, in der Küche in meinem Zimmer und auf dem Klo.
Wir rauchten in der Hochschule - wohlgemerkt IN der Hochschule, während der laufenden Vorlesungen. Die Studenten rauchten, Dozenten rauchten, die Angestellten rauchten und in den Aufenthaltsräumen wurde geraucht.
In der Mensa war das Rauchen dann aber doch nicht mehr erlaubt, aber der Qualm drang aus dem Foyer dick herein. Das war in den 80ern und so langsam wurden die Nichtraucher mehr und selbstbewusster und es wehte wirklich ein anderer Wind.


So lange ich einigermassen klar war, rauchte ich wenig, alle paar Stunden Eine, in Gesellschaft etwas öfter, wenn ich Alkohol trank, dann rauchte ich deutlich mehr und wenn ich allein in meiner Wohnung war, dann gar nicht.
Anfang der 90er hörten die ersten Raucher unter meinen Freunden auf mit Zigaretten und beim Job war das Rauchen in den Arbeitsräumen verboten. Es gab nun private Partys, bei denen die Leute, die dort wohnten, drum baten, auf dem Balkon zu rauchen und nicht in der Wohnung. Ich fand das damals lächerlich, rauchte weiterhin wenig aber regelmässig.


Ich erinnere mich, ich lebte damals noch allein in einer 2-Zimmer Studentenwohnung und lud zu einem Geburtstag eine Menge Leute zu mir ein. Den Fussboden meiner Wohnung hatte ich nach dem Einzug, weiss lackiert, man sah jede Fussel, jeden Fleck darauf.
Als die ersten Gäste fragten ob ich einen Aschenbecher habe - ich vermute ich war da schon nicht mehr ganz nüchtern - sagte ich sie sollten einfach auf den Boden aschen.
Ein echt saublöder Fehler - den feinen Staub von der Asche hab ich nachher nie mehr aus der Wohnung gebracht, obwohl ich sie komplett mehrmals putze und alle Kleider aus den Schränken wusch.


Damals gingen die 80er zu Ende, meine zweite Langzeitbeziehung auch. 
So tobte ich mich ein paar Jahre ziemlich aus. 
Alle die Geliebten rauchten mehr oder weniger. 
Am heftigsten aber Brigittchen. Sie qualmte wo sie ging und stand, die brennende Kippe lag auf dem Waschbeckenrand wenn sie ihre Zähne putzte oder duschte, sie rauchte vor dem Sex und der erste Griff, nachdem sie mich los gelassen hatte, galt der Packung Marlboro Light, die immer in ihrer Reichweite war. Manchmal brannten mehrere ihrer Zigaretten gleichzeitig in der Wohnung, weil sie vergessen hatte, dass sie bereits eine angezündet hatte. Der, meist volle, Aschenbecher stand stets neben ihrem Bett, Tag und Nacht und sie leerte ihn erst, wenn beim Ausdrücken der Zigarette die Kippen über den Tisch kullerten.
Die Zeit mit Brigittchen ging zu Ende ... nicht wegen des vollen Aschenbechers ... das hatte andere Gründe und das ist eine andere Geschichte.

Audrey Hepburn und George Peppard "Frühstück bei Tiffany" Regie Blake Edwards 1961

Ich rauchte die ganzen 90er hindurch, wenig aber regelmässig, daheim jetzt dann auf dem Balkon, weil meine damalige Freundin nicht rauchte


Auch im neuen Jahrtausend rauchte ich weiter. Die ersten Verbote kamen, man durfte in den Kneipen und Restaurants nicht mehr rauchen und plötzlich fragten sich alle, wie sie das so lange ausgehalten hatten, den Gestank, den Qualm und die Ignoranz der Raucher.


Dann war Schluss.
Ich sass mit einer Freundin auf dem Balkon, schaute die halb runtergebrannte Kippe an und dachte: “Eigentlich brauch ich das gar nicht … “ ich machte sie aus und nie wieder eine an.
Das war am Anfang des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts.


Heute kann ich den Geruch von brennendem Tabak nicht mehr ertragen … in geschlossenen Räumen sowieso nicht ... und im Freien brauche ich 1-2 m Abstand.
“Warum denn das?” fragte mich ein Freund, der immer noch raucht und immer alles in Frage stellen muss.
Gute Frage!
Na ja, das Rauchen und ich, wir haben eine Geschichte miteinander.

P.S. für die, die meine Geschichte kennen, aus ihrer eigenen Perspektive, möchte ich hier anmerken, dass dies zum Teil Erinnerungen eines kleinen Kindes sind und so vielleicht nicht vollends die Tatsachen abbilden, geschweige denn, den grösseren Zusammenhang.
Die Namen in der Geschichte, die ich nicht änderte, sind die Namen von Menschen, die wohl schon lange nicht mehr leben. 
Alle anderen bekamen andere Namen von mir.