08 November, 2019

Spamming

Rechts unten im Bauch machte es mir seit Wochen weh. "Oje ... da sitzt die Leber!"
Ich dachte an die vielen Flaschen billigen Kanadischen Fusels, die ich im vergangen Jahr durch sie gefiltert hatte und machte mir Sorgen und einen Arzttermin.
Er ist war grĂŒndlich meine Arzt, tastete und ultraschallte was das Zeug hielt, kratzte sich am Kopf und grinste:
"BlÀhungen haben Sie ... einfach mal furzen" riet er mir ... und ... genau das mach ich jetzt!
Der folgende Furz klemmte mir schon seit 2 Tagen fest:
Ein gewisser Armin Kurver* veröffentlichte im hiesigen SchweizerKĂ€seblĂ€ttchen, in seiner Kolumne, die er scheinbar fĂŒr sehr witzig hĂ€lt, einen Artikel, der im beschwingten Ton startet und dann, nach dem Griff in die “Haben-wir-alle-gelacht-Mottenkiste”, zum ernsthaften Schluss kam, dass ein Angestellter, der ein wenig saumseelig beim Lesen und Beantworten seiner Mails ist und, darauf angesprochenen und kritisiert wurde, die Ausrede benutzte, da sei wohl was im Spamordner gestrandet. Eigentlich, so meint Herr Kurver, habe Jedermann doch die Pflicht regelmĂ€ssig ebendiesen Ordner zu checken.

Ich glaubs ja nicht … !!!
… nur weil irgendwelche faulen Penner diese bescheuerte Ausrede benutzen, soll nun der Rest der Welt tĂ€glich im digitalen MĂŒll wĂŒhlen? Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
"Ficken sie sich in's Knie, Herr Kurver!"


Oder … vielleicht fangen wir diese Geschichte doch etwas freundlicher und woanders an. 
Bevor ich eventuell noch ausfallend werde!


Also, erstmal tief durchatmen! 


Meine Grosseltern wurden alle so zwischen 1902 und 1910 geboren und erzĂ€hlten mir von ihrer Kindheit. Es ist etwas völlig anderes, wenn Oma und Opa sich erinnern und erzĂ€hlen und lachen, schmunzeln oder weinen oder gar drohend den Zeigefinger erheben, als wenn man das  nur in einem Buch liest oder im Fernsehen sieht.


So erzÀhlten sie mir von ihren Eltern, also meinen Urgrosseltern und ihren Geschwistern und den Tieren, mit denen sie lebten. Sie erzÀhlten von den Dörfern in denen sie wohnten, die sie verliessen um sich woanders anzusiedeln, weil es dort besser bezahlte Arbeit gab oder weil sie dorthin heirateten. Reisegeschichten und solche mit Tieren mochte ich am liebsten.


Die Geschichte vom Urgrossvater, zum Beispiel, der so im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, eine kranke Kuh, die eine Darmverschlingung hatte und seit Tagen weder frass noch kackte und zu sterben drohte, zum Tierarzt fĂŒhren wollte, ins Nachbardorf, bei strömendem Regen, wie sie durch den Bach, der angeschwollen war, waten mussten, weil es keine BrĂŒcke gab und wie die Kuh es mit der Angst bekam und bockte, am einen Ende des Seiles riss, wĂ€hrend mein Urgrossvater am anderen Ende zerrte und wĂŒtend wurde und dann versuchte das Vieh mit der Schulter zu schubsen und wie die Kuh noch mehr sich strĂ€ubte und hin und her sprang und letztlich mit dem Huf in einen der weiten Stiefel des Urgrossvater hineintrat. Der Stiefel war nun gut gefĂŒllt mit MĂ€nner- und Kuhbein, so dass beide feststecken darin.
Das hatte sehr weh getan, der Huf der Kuh auf dem Fuss des Mannes und die Kuh habe ja auch nicht still gestanden, sondern sei weiterhin herumgehĂŒpft mitsamt dem Stiefel und dem Fuss und dem Urgrossvater daran.
Vor Schmerz und Verzweiflung hatte der dann angefangen zu schreien und auf die Kuh einzuschlagen, mit den FĂ€usten, wo er eben so hingelangen konnte und da er nun mal mit dem Stiefel an das Luder seitlich gefesselt war, hauptsĂ€chlich auf dessen Bauch. Dies Gerangel und Geboxe und GehĂŒpfe sei so wohl eine Weile weiter gegangen, bis mein Urgrossvater durch sein eigenes Geschrei hindurch und trotz des rauschenden Baches und trotz des strömenden Regens ein lautes Poltern im Bauch des Rindviehs hörte.
Irgendwie habe das Tier dann versucht ihn zu beissen oder mit den Hörnern zu stoßen, jedenfalls wendete es den Kopf so ihm zu, dass der maltrĂ€tierte Mann ihr einen saftigen Schlag auf die Nase geben konnte. Dieser Schlag liess die Kuh vor Schmerz hochspringen, und dabei rutsche endlich der Kuh- vom Menschenfuss und aus dem Stiefel raus.


An die Kuh gelehnt humpelte mein Urgrossvater wieder heim, denn als altgedienter Bauer wusste er, dass das Poltern im Bauch der Kuh bedeutete, dass deren Darmverschlingung sich durch seine SchlÀge gelöst hatte und ebenso wusste er, dass sein Fuss dringend verpflegt werden musste.


ZurĂŒck zu Herrn Kurver.
FĂŒr meinen Vorschlag, mit seinem eigenen Kniegelenk Geschlechtsverkehr zu haben, möchte ich mich ernsthaft entschuldigen! Wirklich! … manchmal bin ich etwas aufbrausend … das Temperament hab ich wohl von meinem Urgrossvater geerbt.
Allerdings hĂ€tte ich da einen anderen Vorschlag fĂŒr Herrn Kurver, falls seine Hirnverschlingung sich nicht lösen sollte, wĂŒsste ich da eine probate und in unser Familie lang erprobte Behandlung.


Schönen Tag noch!
… und bitte lasst den Spam im Spamordner, das Leben ist auch so schon viehisch genug.


*Name leicht geÀndert

01 November, 2019

Smelling


Licht und Luft gaukeln uns eine Welt vor,
die letztlich nur aus Atomen und Schwingungen besteht,
der Rest ist unsere Interpretation.

Mit dem beginnenden Alter lassen die Sinne nach.
Neulichs war ich bei meiner AugenĂ€rztin, die mich einerseits mit ihrer, stĂ€ndig von einem Knöpfchen zu wenig zugehaltenen, Bluse und der zackigen Anweisung “jetzt bitte nach unten gucken” andererseits mit dem Ergebnis des Sehtests durcheinander brachte.

So brauche ich mal wieder eine neue Brille. 
Gestern also dann beim Optiker rein.
Die Lady, die mich bediente, war ordentlich zugeknöpft, ebenso in der Begegnung mit mir.
Sie versuchte immer mal wieder zu lĂ€cheln, wĂ€hrend sie mich zutextete, das erinnerte mich jedoch eher an einen Haifisch, als an etwas Menschliches. Ausserdem stank sie so dermassen nach Parfum, dass ich erst Kopfschmerzen und dann ein regelrechtes Bohren hinter den Augen bekam. 


Denn es gibt zwei Dinge, die anderen Menschen nichts oder wenig ausmachen, bei mir aber verheerend sein können. Das Eine ist vorgetĂ€uschte Freundlichkeit und das Andere aufdringliche und kĂŒnstliche GerĂŒche.*
Sie hatte beides.
Ich unterbrach ihren Redeschwall, verabschiedete mich ein wenig hastig und rannte draussen genau in Nina, eine alte Bekannte, rein. Ich hĂ€tte sie fast nicht erkannt … eben ... wirklich! … ich brauch dringend `ne neue Brille.

Nina ist voll öko und riecht nie nach Parfum, eher nach Ziege, gutem Dung und frischer Milch, denn seit ein paar Jahren lebt sie auf einem Hof.
Ausserdem ist sie nie freundlich, wenn es keinen Grund dazu gibt.
So war ich glĂŒcklich, grad sie zu treffen und umarmte sie herzlich.
Hinter ihr rage ihr Freund auf, der gefĂŒhlte 80 cm grösser ist als ich und das gleiche Raubfischgrinsen zeigte wie das der Optikerin der ich grad entkommen war.


Durch den lieblichen Landduft hindurch roch ich etwas anderes, was mich von ihm her anwehte. Eine Mischung aus frischem Blut und rostigem Metall.
Er gab mir die Hand, die sich anfĂŒhlte wie ein seit 3 Tagen totes Ferkel und fragte mich dies und das Belangloses und grinste weiter mit gefletschten ZĂ€hnen.
Nina und ich hatten keine Chance ein paar Worte zu wechseln, denn er drĂ€ngte zum Aufbruch 
“Wir mĂŒssen noch fĂŒrs ganze Wochenende einkaufen” kramte er hastig eine ErklĂ€rung hervor … auch einer von denen, die ein Mal pro Woche in der Angst leben, bis Montag zu verhungern.


Nina und ich tauschten noch einen Blick “Ein anderes Mal” sagte sie zum Abschied …
“Ja gern!”

Der Duft nach Landleben verblasste, was noch einen Moment blieb, war sein Mief von abgestandener Eifersucht.
Ich hatte plötzlich das Bild von alten rostigen, blutverschmierten Messern und Schwertern.
Das scheint nun auf den ersten Blick vielleicht ein wenig sinnlos, kapriziös oder gar durchgedreht. Aber allen die jetzt grinsend nicken, möchte ich zu bedenken geben, dass, das nĂ€chste Mal wenn mir jemand begegnet, der eifersĂŒchtig ist, ich wieder Blut und Eisen riechen werde.


Wenn ich meine Lebenslinie so anschaue, dann ist klar, dass ich dem Ende nĂ€her bin als dem Anfang … egal wie gesund ich mich ernĂ€hre, wie wenig ich saufe und mein Jing zusammenhalte, kann ich meiner unausweichlichen Auflösung in der grossen Matrix, bestenfalls noch ein paar zusĂ€tzliche JĂ€hrchen abknapsen.
Ebenso klar ist, dass die FĂ€higkeit, komplexe Situationen angemessen wahr zu nehmen und einigermassen korrekt auf sie zu reagieren in den kommenden Jahren abnehmen wird.


Wie alle Sinne lĂ€sst auch der Geruchssinn im Alter nach … oder besser gesagt, er verĂ€ndert sich.
Durch die weniger intensive Wahrnehmung von aussen, produziert er offenbar ... bei mir ... GerĂŒche die von innen kommen … also macht Reaktionen auf ganz andere als auf reale GeruchseindrĂŒcke. 
Was soll er sonst auch tun, wenn er mangels Àusserer Reize beginnt sich zu langweilen.
Sinne, die nicht mehr so recht zu brauchen sind, suchen sich ein neues, sinnvoll einsetzbares Aktionsfeld. 
WĂ€hrend mein schwĂ€chelnder Geruchssinn selber GerĂŒche generiert bastelt meine Unterbewusstsein daraus Bilder und zeigt mir diese dann wieder wenn ich in eine Ă€hnliche Situation gerate und mal nicht schnalle, was da eigentlich grad passiert.
Irgendwie wie eine interne UnterstĂŒtzte Kommunikation.
So sehr sind also Geist und Körper miteinander verwoben.


NatĂŒrlich riecht heutzutage niemand mehr wirklich nach Meuchelmord, Schlachtfeld oder Henker, aber offenbar assoziiert mein Hirn bestimmte, sagen wir mal befremdliche Verhaltensweisen mit spezifische archaischen GerĂŒchen.


So baut mein Hirn dem körperlichen Abbau vor, macht sich auf eine etwas seltsam-ĂŒberirdische Weise bereit fĂŒr die mageren, introvertierten Zeiten.



Yeeeeeha … auf in ein seltsames und lustiges Altwerden.




"Körper und Geist 
sind eng
miteinander verbunden, 
sie stehen in 
stĂ€ndigem Austausch 
miteinander." 


Ein westlicher Arzt, der eng mit dem
“Zentrum fĂŒr traditionelle tibetische Medizin” 
zusammenarbeitet. 
ARTE 24.10.`19 /  Doku der Reihe: 
360° Die Geo-Reportage 
Episodenname: Tibetische Medizin 




* ach ja, und unterirdische RĂ€ume!



geschrieben 31.10. `19 in einem Wartezimmer, gepostet nach langen, fruchtlosen Überlegungen 02. Nov. 2019

20 September, 2019

daily needing



einfach drauf los plappern
den Arsch in der Hose haben
sich abgrundtief schÀmen
hemmungsloss lachen
das letzte stĂŒck lachs vom buffet fischen
einem griesgrĂ€migen alten kerl ĂŒbertrieben höflich den vortritt lassen
ĂŒber sich selber brĂŒten
brutal missverstanden werden, aber es nicht richtigstellen mögen, aus beleidigtsein
mordlust im herzen
einem anderen arbeit abnehmen, wenn sie mĂŒde ist
pudding kochen fĂŒr alle
merkwĂŒrdig reagieren
schwerhörig sein und damit kokettieren
sich ausgegrenzt fĂŒhlen / sich eingegrenzt fĂŒhlen
gedanken fressen im gehirn
weggehen bevor man weggeschickt wird
alleinsein einsamsein einfach sein
materialschlacht an geschichten ĂŒber das eigene leben
sehnsucht haben nach jemandem der keines gedankens wert ist
letztlich erinnern wir uns immer nur an uns selber
mich im glĂŒck sulen, oder im unglĂŒck
vom fliegen trÀumen
das lieblingsbier im supermarkt ist nicht da
francesca auf einem weissen pferd mein herz macht einen salto, nein zwei
wÀhre ich doch mit 16 nach new york gegangen, so wie ich es mit 12 vorhatte
der erste kaffee am morgen
eine entscheidung 
ein rĂŒckzug
ein wutanfall
jetzt erst recht
ein tag wie eine mit samt verkleidete dampfwalze
ich eingespielt mit dir 
ein flötenkonzert ohne dirigent
nichts zu vergeben nichts zu schulden kommen lassen
fragwĂŒrdig sein
lĂŒgen
absolut hemmungslose hingabe
mich verstanden fĂŒhlen
zÀhne nicht geputzt
10x10 cm deiner haut eincremen wÀhrend du mich auslachst
einfach gradeaus fahren



23 August, 2019

Imagining


Bild: mal kurz ausgeliehen bei: 
https://soranews24.com/2012/09/28/hilarious-comic-about-room-sharing-jesus-and-buddha-saint-onisan-to-become-animated-movie/ 




Nun kann ich das akzeptieren, oder ein Riesengeschiss draus machen, dass mir immer wieder religiöse Themen in den Sinn kommen.
Jedoch, nach meinem Treffen mit einer Buddhistin und dem mit einer Psychologin, neige ich, gemĂ€ss dem Rat der Buddhistin momentan dazu, los zu lassen und mich mal Dem auszusetzen, was eben so passiert und die Psychologin mahnte mich, in wohl selber Absicht: 
„Es fĂŒhrt auch ein gangbarer Weg am Arsch vorbei.“

Ihr erinnert Euch, dass die RĂŒckenlehne von meinem Sofa, mein eigentlicher spiritueller Ratgeber ist ?! Oft ungefragt mischt sie sich in mein Leben ein, auditiert mein Verhalten oder motzet einfach auch mal so rum.

However!¨
Nun … was soll ich sagen … heute gegen 16:00h hatte ich plötzlich das Verlangen nach billigem amerikanischen Whisky. Lieber wĂ€re mir der billige Canadische gewesen, aber offenbar hat sich die Schweizer Aussenhandelskommission entschieden, den nicht ins Sortiment zu nehmen.

Jedenfalls … gesehnt, getan … fuhr ich in den nĂ€chstgelegenen SpirituosenLaden und griff mir meine bevorzugten Marke „Four Roses“ … weil es meinen eigentlichen Favoriten,  „Wild Turkey,“ ebenfalls wegen dieser, ev. inexistenten Schweizer Aussenhandelskommission, auch nicht gibt.

Wieder daheim, kaum den AutoschlĂŒssel versorgt, Schrank auf, Whiskeyglas und „hopp de Bese“ zuerst noch moderat, dann aber zunehmend furioser, nahm ich ein bis drei GlĂ€schen.

So sitze ich also auf  mei`m Sofa, die Weise RĂŒckenlehne hebt grad an, mir einen Vortrag ĂŒber die Unbilden von unkontrolliertem Alkoholgenuss zu halten, da passiert etwas völlig Unglaubliches.

Neben der weisen RĂŒckenlehne, die ausgewiesenermassen SEHR weise ist, hat mein Sofa auch noch eine Kopf- und eine Fusslehne oder zwei Armlehnen … je nach dem, wie man es betrachtet.

Auf diesen beiden eben, erscheinen, zuerst noch schemenhaft ...
… ich denk noch so: „na gut, ich hab halt ein` im Tee!“ ... zwei Gestalten, 
die sich dann jedoch vollends materialisieren, der eine in einer weissen Toga, der andere in so einem safrangelben indischen Dingsbums und stellen sich sehr höflich, aber etwas distanziert, als Jesus und Buddha vor.

Ich daraufhin: „ne, Ă€cht jez?!“

„ja, Ă€cht jez“ Ă€fft mich Jesus nach … „un sach ma, muss die Sauferei jez Ă€cht sein?“ fĂ€hrt er in meinem Duktus fort.
Buddha beugt sich ein wenig zu mir rĂŒber, er duftet nach RĂ€ucherkerzen … nach Nag Champa um genau zu sein … „Der is voll!“ diagnostiziert er.
Jesus beugt sich auch rĂŒber, er riecht komischerweise irgendwie nach Weisswein „Das issea Ă€cht“ behĂ€lt er seine Imitation bei.

„Eigentlich“ spricht Buddha „sind wir gekommen, um Deine Fragen ĂŒber das Leben, die Liebe, den Tod und den ganzen Rest zu beantworten!“

Ich bin sprachlos.
„Sag was!!!“ sagt meine weise RĂŒckenlehne und stupft mich in den RĂŒcken. 
Sie scheint mir ein wenig unter Zugzwang zu stehen.

So bleibt mir nichts als zu versuchen, der Situation gerecht zu werden:
Ich greife also unter den Beistelltisch von Ikea nach der Flasche „Four Roses“, schenke mir einen Doppelstöckigen ein, kippe ihn runter, denke noch kurz nach, ob mein Anliegen angemessen ist, besinne mich, dass ich ja SozialpĂ€dagoge bin, und damit absolut jeder Situation gewachsen, und, falls nicht, ich es anschliessend professionell reflektieren werde, und entschliesse mich zu sagen:
„Echt Jungs, nich jetzt! … lasst uns das auf morgen verschieben, O.K.?“

Die beiden Gestalten, zu meiner Rechten und Linken sitzend, seufzen gleichzeitig auf, werden blasser und blasser, bevor sie in weissem, bzw. safrangelbem Rauch vergehen, es riecht ein wenig streng nach Sandelholz, Weihrauch und Weisswein und meine weise RĂŒckenlehne rĂ€uspert sich kurz und sagt „Vollidiot“

geschrieben und gepostet in Luzern am 23. August 2019

18 August, 2019

Missing


Jackson Pollock, Unformed Figure (1953)

Helena begegnete mir in der Mitte der 80er Jahre.
Damals, obwohl schon fast 30, studierte ich tagsĂŒber, verdiente mein Geld als Taxifahrer, Kellner, Barmann, Tischler, Zeitungsbote und Roadie und holte in den NĂ€chten meine verpasste Kneipenphase nach. 

Nie zuvor, aber auch nie wieder danach, lebte ich in einem so breit gefĂ€cherten sozialen Umfeld. 
Die Menschen meiner Tage an der Hochschule, in den diversen Jobs und die Menschen meiner NĂ€chte in den Bars und Discos hatten eine ĂŒberschaubare Schnittmenge. 
Ganz an den Àusseren RÀndern der Gruppen bewegten sich die Sonderlinge, die Bestaunten und die GeÀchteten, die Gemiedenen und die UmschwÀrmten.

Eine der auffÀlligsten Figuren war sicher Helena.
Sie war klein und zart und Ă€usserlich eher unauffĂ€llig, fast schon wirkte sie jungenhaft mit ihrem kurzen, dĂŒnnen Haar und den knappen weiblichen Rundungen, sie war laut und direkt und ehrlich, trug selbstgeschneiderte, zum Teil völlig abgedrehte Kleider und wer in ihre NĂ€he kam, spĂŒrte ihre ausgeprĂ€gte PrĂ€senz und ihre klare innere Kraft. 
Wer also mit seinem Leben nicht zurecht kam, und das waren viele von denen, um mich herum, damals. Wem seine Liebesbeziehung entglitt oder wer eine anvisiert hatte, aber nicht wusste, wie aufgleisen, der redete mit Helena. Nicht nur, dass ihre RatschlÀge eine aussergewöhnlich hohe Trefferquote hatten, allein mit ihr zu reden, machte den Tag irgendwie heller und die NÀchte wohliger.

Als ich das erste Mal mit ihr sprach, schenkte sie mir eine Art von absolut ungeteilter Aufmerksamkeit, stellte die genau richtigen Fragen und brachte mich auf leisen FlĂŒgel dazu, Dinge ĂŒber mich zu erzĂ€hlen, die ich mir selber noch nie so bewusst gemacht hatte, hob mir ZusammenhĂ€nge ĂŒber den inneren Horizont, die zuvor dahinter verborgen gelegen hatten. Sie machte, dass ich mich fĂŒhlte wie sich meine Hand anfĂŒhlt, wenn sie in den genau passenden Handschuh schlĂŒpft. 
Wir trafen uns von da an, zuerst mehr oder weniger zufÀllig, dann zunehmend verabredeter auf unseren Kneipentouren und auf Partys, in den folgenden Wochen immer hÀufiger.

Langsam begann ich  in ihren wasserblauen Augen zu ersaufen und trĂ€umte eines Nachts davon, wie meine Finger durch ihr dĂŒnnes, glattes Haar glitten und ihr Kopf in meine Hand sank. Ich traf sie am nĂ€chsten Tag beim Einkauf. Sie schaute mich mit leicht seitlich geneigtem Kopf an, wirkte zuerst ein wenig verdutzt, dann lĂ€chelte sie umarmte mich und flĂŒsterte "ja" in mein Ohr. 

Auf die nĂ€chsten Party, fĂŒr die wir locker verabredet waren, kam sie lange nach Mitternacht hereingeschneit, nie werde ich das quitschgrĂŒne Kleidchen mit den knallroten RosenblĂŒten und ihre dĂŒnnen Beinchen in den klobigen schwarzen Springerstiefeln vergessen, die spiddeligen, kurzen Haare mit rosa Schnippgummis zu unzĂ€hligen Zöpfchen gebunden, erinnerte sie am ehesten an eine Mischung aus Pipi Langstrumpf und einem furchtbar verunglĂŒckten Jackson Pollock.
Sie steuerte schnurgerade auf mich zu, baute sich vor mir auf, indem sie die HĂ€nde in die schmalen HĂŒften stemmte und unangemessen laut verkĂŒndete: "Alter, heut Nacht leg ich Dich flach!" 
Dann zog sie, den rechten, Stiefel aus, tunkte den nackten Fuss in eine der dafĂŒr von der Wohngemeinschaft bereitgestellte SchĂŒsseln voll Farbe, stĂŒtzte sich auf meiner Schulter ab und drĂŒckte ihren Fuss zwischen all die anderen AbdrĂŒcke, die dort schon an der Wand waren. Dann liess sie sich breitbeinig auf meinen Schoss plumpsen.

Helena nahm mich, wie versprochen, eine Frau, ein Wort.
So wurden wir irgendwie ein Paar, fĂŒr ein paar Monate, denn jeder von uns beiden steckte noch in einer "richtigen" Beziehung.
An dieser wollte sie auch nicht rĂŒtteln … denn Helena war neben ihrem schrankenlos burschikose Auftreten, neben den durchsoffenen und durchgemachten NĂ€chten, neben ihrer kompromisslos liebenswerten Art auch noch praktizierende Christin und sang im Kirchenchor.
Ich hab sie ĂŒbrigens mal singen gehört, ihre Stimme war so klar wie ein Novembermorgen nach einer klirrend kalten Nacht.

Wir versuchen mehrmals, wegen der "richtigen" Beziehungen, mit unseren SchĂ€ferstĂŒndchen und -nĂ€chten aufzuhören. Was sich jedoch als nicht so leicht durchfĂŒhrbar erwies.
Ich erinnere mich, nach einer dieser "vernĂŒnftigen" Trennungen, trafen wir uns zufĂ€llig auf einem Stadtfest, sagten uns artig "hallo", machten ungewohnt erwachsene Konversation miteinander, ĂŒber Bekannte und Jobs und … was weiss ich denn noch. Es fĂŒhlte sich jedenfalls fremd und saublöde an. Dann, der Smalltalk war am versiegen, schauten wir uns an.
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, lÀchelte und nickte. Als NÀchstes sassen wir in einem Taxi, dass uns zu meiner Wohnung fuhr.
"Die Schwerkraft ist ein Scheissdreck, gegen das, was uns zueinander zieht!" sagte sie nachher, als der Morgen graute.
"ja"

Auch Helena hatte mehre Jobs, studierte Malerei und engagierte sich kirchenseits fĂŒr obdachlose Frauen. Ihre "richtiger" Freund, den sie eines Tages heiraten wollte und Kinder mit ihm haben, beanspruchte auch seinen Anteil ihrer Zeit und Energie.
So kam es, dass wir uns tatsÀchlich irgendwann seltener trafen.

Ich begann einen "richtigen" Job, der sich mit meinem nĂ€chtlichen Streunen nicht vertrug und Helena wurde krank und bekam wenig spĂ€ter die Diagnose: LymphdrĂŒsenkrebs.
Sie verkĂŒndete das in gewohnt lauter und liebenswert rĂŒckhaltlose Weise auf der Party zu ihrem 26 Geburtstag.

Sie verschwand von der BildflĂ€che bald danach, in irgendwelche SpitĂ€lern und Therapien. Facebook und Mobiltelefone gab's noch nicht und keiner der Freunde wusste so recht wo sie war und wie es ihr ging. Wir lebten unser Leben weiter und ab und zu erzĂ€hlte mal jemand, was er so ĂŒber sie gehört hatte. Ich blieb meist still, denn mein Herz fĂŒhlte sich jedes Mal an, als sei es auf eine heisse Herplatte gefallen, wenn ich an sie dachte.
Ich hielt Distanz, kĂŒmmerte mich um Job und "richtige" Beziehung und den Rest von dem Zeugs, den man in diesem Alter fĂŒr wichtig hĂ€lt.

Eines Abends klingelte mein Telefon. Helenas Vater, den ich vom Sehen kannte, war dran und bat mich, sie mal zu besuchen. Sie wĂŒrde in den nĂ€chsten Tagen aus dem Spital nach Hause kommen, es gehe ihr Recht gut und sie habe nach mir gefragt.

Sie war noch dĂŒnner geworden, trug eine Marilyn Monroe PerĂŒcke und ihre blassblauen Augen waren noch blasser und unnatĂŒrlich gross. 
Trotzdem war sie schön, eine Schönheit die jeden Moment vom Wind weggeweht werden konnte und darum um so kostbarer schien.
"Kack-Chemo" sagte sie und zeigte auf ihre Haarpracht.

Ihr zukĂŒnftiger Ehemann hatte sie verlassen und die eigene Wohnung hatte sie aufgeben mĂŒssen, lebte wieder bei den Eltern.
Sie brauche dringend  Sex sagte sie mir und mit uns beiden, sei das immer so "nahtlos" gegangen ... 
… sie sagte tatsĂ€chlich " nahtlos" … und das war das genau richtige Wort dafĂŒr.
Ob sie Sonntag zu mir kommen könne, fragte sie, denn hier bei ihren Eltern … " na, ja!"
... aber erst am Nachmittag, ergÀnzte sie, denn morgens wolle sie noch in den Gottesdienst gehen.

Am Sonntag lĂ€utete es sehr frĂŒh an meiner TĂŒr. Als ich völlig verpennt öffnete, stand Helena dort, klein, zart, jetzt mit Baseballcap, statt PerĂŒcke auf dem haarlosen Kopf.  
Fast schĂŒchtern sagte sie " ... das mit dem Sex und so weiter" … sie habe sich nun doch entschlossen, zu mir zu kommen, statt der Kirche zu geh'n.

Wir verbrachten einen Tag im Bett und halb angezogen auf dem Balkon mit Kaffe und Kuchen und spÀter mit Pizza, wÀhrend der Regen in den BÀumen rauschte
"Du hattest also die Wahl zwischen dem Lieben Gott und mir?" fragte ich beim Rotwein.
"ja" sagte sie leise und legte den Kopf an meine Schulter. 
Dann wollte sie spazieren gehen ... 
... das war im August vor 35 Jahren ...
Wir gingen nebeneinander unter ihrem Schirm.
Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in einen MĂŒlleimer.
"Lass uns zusammen durchweichen"
"ja"

Wir sahen uns noch ab und zu, zwischen Spitalaufenthalten und langem Schweigen lagen wir hin und wieder in einem zerwĂŒhlten Bett. Ihre Eltern gingen aus dem Haus, wenn ich zu Besuch kam … einmal, schon in der HaustĂŒr auf dem Weg nach draussen, umarmte mich ihr Vater. "Scheisse, Mann" sagte er.

Helena ist dann mit nicht mal 30 gestorben, als ich schon weggezogen war aus der Stadt in der wir beide damals lebten.

Ja, es war irgendwie "nahtlos", berĂŒhrend und einfach mit ihr, wie ein Bild von Jackson Pollock.
Und nie wieder hab ich solch ein Kompliment bekommen … wie ihr einfaches, kleines, leises "ja".




......
fĂŒr M.H. đŸŒč☂️🧚‍♀️


geschrieben/gepostet am 16./18. August 2019 in Luzern