23 August, 2019

Imagining


Bild: mal kurz ausgeliehen bei: 
https://soranews24.com/2012/09/28/hilarious-comic-about-room-sharing-jesus-and-buddha-saint-onisan-to-become-animated-movie/ 




Nun kann ich das akzeptieren, oder ein Riesengeschiss draus machen, dass mir immer wieder religiöse Themen in den Sinn kommen.
Jedoch, nach meinem Treffen mit einer Buddhistin und dem mit einer Psychologin, neige ich, gemäss dem Rat der Buddhistin momentan dazu, los zu lassen und mich mal Dem auszusetzen, was eben so passiert und die Psychologin mahnte mich, in wohl selber Absicht: 
„Es führt auch ein gangbarer Weg am Arsch vorbei.“

Ihr erinnert Euch, dass die Rückenlehne von meinem Sofa, mein eigentlicher spiritueller Ratgeber ist ?! Oft ungefragt mischt sie sich in mein Leben ein, auditiert mein Verhalten oder motzet einfach auch mal so rum.

However!¨
Nun … was soll ich sagen … heute gegen 16:00h hatte ich plötzlich das Verlangen nach billigem amerikanischen Whisky. Lieber wäre mir der billige Canadische gewesen, aber offenbar hat sich die Schweizer Aussenhandelskommission entschieden, den nicht ins Sortiment zu nehmen.

Jedenfalls … gesehnt, getan … fuhr ich in den nächstgelegenen SpirituosenLaden und griff mir meine bevorzugten Marke „Four Roses“ … weil es meinen eigentlichen Favoriten,  „Wild Turkey,“ ebenfalls wegen dieser, ev. inexistenten Schweizer Aussenhandelskommission, auch nicht gibt.

Wieder daheim, kaum den Autoschlüssel versorgt, Schrank auf, Whiskeyglas und „hopp de Bese“ zuerst noch moderat, dann aber zunehmend furioser, nahm ich ein bis drei Gläschen.

So sitze ich also auf  mei`m Sofa, die Weise Rückenlehne hebt grad an, mir einen Vortrag über die Unbilden von unkontrolliertem Alkoholgenuss zu halten, da passiert etwas völlig Unglaubliches.

Neben der weisen Rückenlehne, die ausgewiesenermassen SEHR weise ist, hat mein Sofa auch noch eine Kopf- und eine Fusslehne oder zwei Armlehnen … je nach dem, wie man es betrachtet.

Auf diesen beiden eben, erscheinen, zuerst noch schemenhaft ...
… ich denk noch so: „na gut, ich hab halt ein` im Tee!“ ... zwei Gestalten, 
die sich dann jedoch vollends materialisieren, der eine in einer weissen Toga, der andere in so einem safrangelben indischen Dingsbums und stellen sich sehr höflich, aber etwas distanziert, als Jesus und Buddha vor.

Ich daraufhin: „ne, ächt jez?!“

„ja, ächt jez“ äfft mich Jesus nach … „un sach ma, muss die Sauferei jez ächt sein?“ fährt er in meinem Duktus fort.
Buddha beugt sich ein wenig zu mir rüber, er duftet nach Räucherkerzen … nach Nag Champa um genau zu sein … „Der is voll!“ diagnostiziert er.
Jesus beugt sich auch rüber, er riecht komischerweise irgendwie nach Weisswein „Das issea ächt“ behält er seine Imitation bei.

„Eigentlich“ spricht Buddha „sind wir gekommen, um Deine Fragen über das Leben, die Liebe, den Tod und den ganzen Rest zu beantworten!“

Ich bin sprachlos.
„Sag was!!!“ sagt meine weise Rückenlehne und stupft mich in den Rücken. 
Sie scheint mir ein wenig unter Zugzwang zu stehen.

So bleibt mir nichts als zu versuchen, der Situation gerecht zu werden:
Ich greife also unter den Beistelltisch von Ikea nach der Flasche „Four Roses“, schenke mir einen Doppelstöckigen ein, kippe ihn runter, denke noch kurz nach, ob mein Anliegen angemessen ist, besinne mich, dass ich ja Sozialpädagoge bin, und damit absolut jeder Situation gewachsen, und, falls nicht, ich es anschliessend professionell reflektieren werde, und entschliesse mich zu sagen:
„Echt Jungs, nich jetzt! … lasst uns das auf morgen verschieben, O.K.?“

Die beiden Gestalten, zu meiner Rechten und Linken sitzend, seufzen gleichzeitig auf, werden blasser und blasser, bevor sie in weissem, bzw. safrangelbem Rauch vergehen, es riecht ein wenig streng nach Sandelholz, Weihrauch und Weisswein und meine weise Rückenlehne räuspert sich kurz und sagt „Vollidiot“

geschrieben und gepostet in Luzern am 23. August 2019

18 August, 2019

Missing


Jackson Pollock, Unformed Figure (1953)

Helena begegnete mir in der Mitte der 80er Jahre.
Damals, obwohl schon fast 30, studierte ich tagsüber, verdiente mein Geld als Taxifahrer, Kellner, Barmann, Tischler, Zeitungsbote und Roadie und holte in den Nächten meine verpasste Kneipenphase nach. 

Nie zuvor, aber auch nie wieder danach, lebte ich in einem so breit gefächerten sozialen Umfeld. 
Die Menschen meiner Tage an der Hochschule, in den diversen Jobs und die Menschen meiner Nächte in den Bars und Discos hatten eine überschaubare Schnittmenge. 
Ganz an den äusseren Rändern der Gruppen bewegten sich die Sonderlinge, die Bestaunten und die Geächteten, die Gemiedenen und die Umschwärmten.

Eine der auffälligsten Figuren war sicher Helena.
Sie war klein und zart und äusserlich eher unauffällig, fast schon wirkte sie jungenhaft mit ihrem kurzen, dünnen Haar und den knappen weiblichen Rundungen, sie war laut und direkt und ehrlich, trug selbstgeschneiderte, zum Teil völlig abgedrehte Kleider und wer in ihre Nähe kam, spürte ihre ausgeprägte Präsenz und ihre klare innere Kraft. 
Wer also mit seinem Leben nicht zurecht kam, und das waren viele von denen, um mich herum, damals. Wem seine Liebesbeziehung entglitt oder wer eine anvisiert hatte, aber nicht wusste, wie aufgleisen, der redete mit Helena. Nicht nur, dass ihre Ratschläge eine aussergewöhnlich hohe Trefferquote hatten, allein mit ihr zu reden, machte den Tag irgendwie heller und die Nächte wohliger.

Als ich das erste Mal mit ihr sprach, schenkte sie mir eine Art von absolut ungeteilter Aufmerksamkeit, stellte die genau richtigen Fragen und brachte mich auf leisen Flügel dazu, Dinge über mich zu erzählen, die ich mir selber noch nie so bewusst gemacht hatte, hob mir Zusammenhänge über den inneren Horizont, die zuvor dahinter verborgen gelegen hatten. Sie machte, dass ich mich fühlte wie sich meine Hand anfühlt, wenn sie in den genau passenden Handschuh schlüpft. 
Wir trafen uns von da an, zuerst mehr oder weniger zufällig, dann zunehmend verabredeter auf unseren Kneipentouren und auf Partys, in den folgenden Wochen immer häufiger.

Langsam begann ich  in ihren wasserblauen Augen zu ersaufen und träumte eines Nachts davon, wie meine Finger durch ihr dünnes, glattes Haar glitten und ihr Kopf in meine Hand sank. Ich traf sie am nächsten Tag beim Einkauf. Sie schaute mich mit leicht seitlich geneigtem Kopf an, wirkte zuerst ein wenig verdutzt, dann lächelte sie umarmte mich und flüsterte "ja" in mein Ohr. 

Auf die nächsten Party, für die wir locker verabredet waren, kam sie lange nach Mitternacht hereingeschneit, nie werde ich das quitschgrüne Kleidchen mit den knallroten Rosenblüten und ihre dünnen Beinchen in den klobigen schwarzen Springerstiefeln vergessen, die spiddeligen, kurzen Haare mit rosa Schnippgummis zu unzähligen Zöpfchen gebunden, erinnerte sie am ehesten an eine Mischung aus Pipi Langstrumpf und einem furchtbar verunglückten Jackson Pollock.
Sie steuerte schnurgerade auf mich zu, baute sich vor mir auf, indem sie die Hände in die schmalen Hüften stemmte und unangemessen laut verkündete: "Alter, heut Nacht leg ich Dich flach!" 
Dann zog sie, den rechten, Stiefel aus, tunkte den nackten Fuss in eine der dafür von der Wohngemeinschaft bereitgestellte Schüsseln voll Farbe, stützte sich auf meiner Schulter ab und drückte ihren Fuss zwischen all die anderen Abdrücke, die dort schon an der Wand waren. Dann liess sie sich breitbeinig auf meinen Schoss plumpsen.

Helena nahm mich, wie versprochen, eine Frau, ein Wort.
So wurden wir irgendwie ein Paar, für ein paar Monate, denn jeder von uns beiden steckte noch in einer "richtigen" Beziehung.
An dieser wollte sie auch nicht rütteln … denn Helena war neben ihrem schrankenlos burschikose Auftreten, neben den durchsoffenen und durchgemachten Nächten, neben ihrer kompromisslos liebenswerten Art auch noch praktizierende Christin und sang im Kirchenchor.
Ich hab sie übrigens mal singen gehört, ihre Stimme war so klar wie ein Novembermorgen nach einer klirrend kalten Nacht.

Wir versuchen mehrmals, wegen der "richtigen" Beziehungen, mit unseren Schäferstündchen und -nächten aufzuhören. Was sich jedoch als nicht so leicht durchführbar erwies.
Ich erinnere mich, nach einer dieser "vernünftigen" Trennungen, trafen wir uns zufällig auf einem Stadtfest, sagten uns artig "hallo", machten ungewohnt erwachsene Konversation miteinander, über Bekannte und Jobs und … was weiss ich denn noch. Es fühlte sich jedenfalls fremd und saublöde an. Dann, der Smalltalk war am versiegen, schauten wir uns an.
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, lächelte und nickte. Als Nächstes sassen wir in einem Taxi, dass uns zu meiner Wohnung fuhr.
"Die Schwerkraft ist ein Scheissdreck, gegen das, was uns zueinander zieht!" sagte sie nachher, als der Morgen graute.
"ja"

Auch Helena hatte mehre Jobs, studierte Malerei und engagierte sich kirchenseits für obdachlose Frauen. Ihre "richtiger" Freund, den sie eines Tages heiraten wollte und Kinder mit ihm haben, beanspruchte auch seinen Anteil ihrer Zeit und Energie.
So kam es, dass wir uns tatsächlich irgendwann seltener trafen.

Ich begann einen "richtigen" Job, der sich mit meinem nächtlichen Streunen nicht vertrug und Helena wurde krank und bekam wenig später die Diagnose: Lymphdrüsenkrebs.
Sie verkündete das in gewohnt lauter und liebenswert rückhaltlose Weise auf der Party zu ihrem 26 Geburtstag.

Sie verschwand von der Bildfläche bald danach, in irgendwelche Spitälern und Therapien. Facebook und Mobiltelefone gab's noch nicht und keiner der Freunde wusste so recht wo sie war und wie es ihr ging. Wir lebten unser Leben weiter und ab und zu erzählte mal jemand, was er so über sie gehört hatte. Ich blieb meist still, denn mein Herz fühlte sich jedes Mal an, als sei es auf eine heisse Herplatte gefallen, wenn ich an sie dachte.
Ich hielt Distanz, kümmerte mich um Job und "richtige" Beziehung und den Rest von dem Zeugs, den man in diesem Alter für wichtig hält.

Eines Abends klingelte mein Telefon. Helenas Vater, den ich vom Sehen kannte, war dran und bat mich, sie mal zu besuchen. Sie würde in den nächsten Tagen aus dem Spital nach Hause kommen, es gehe ihr Recht gut und sie habe nach mir gefragt.

Sie war noch dünner geworden, trug eine Marilyn Monroe Perücke und ihre blassblauen Augen waren noch blasser und unnatürlich gross. 
Trotzdem war sie schön, eine Schönheit die jeden Moment vom Wind weggeweht werden konnte und darum um so kostbarer schien.
"Kack-Chemo" sagte sie und zeigte auf ihre Haarpracht.

Ihr zukünftiger Ehemann hatte sie verlassen und die eigene Wohnung hatte sie aufgeben müssen, lebte wieder bei den Eltern.
Sie brauche dringend  Sex sagte sie mir und mit uns beiden, sei das immer so "nahtlos" gegangen ... 
… sie sagte tatsächlich " nahtlos" … und das war das genau richtige Wort dafür.
Ob sie Sonntag zu mir kommen könne, fragte sie, denn hier bei ihren Eltern … " na, ja!"
... aber erst am Nachmittag, ergänzte sie, denn morgens wolle sie noch in den Gottesdienst gehen.

Am Sonntag läutete es sehr früh an meiner Tür. Als ich völlig verpennt öffnete, stand Helena dort, klein, zart, jetzt mit Baseballcap, statt Perücke auf dem haarlosen Kopf.  
Fast schüchtern sagte sie " ... das mit dem Sex und so weiter" … sie habe sich nun doch entschlossen, zu mir zu kommen, statt der Kirche zu geh'n.

Wir verbrachten einen Tag im Bett und halb angezogen auf dem Balkon mit Kaffe und Kuchen und später mit Pizza, während der Regen in den Bäumen rauschte
"Du hattest also die Wahl zwischen dem Lieben Gott und mir?" fragte ich beim Rotwein.
"ja" sagte sie leise und legte den Kopf an meine Schulter. 
Dann wollte sie spazieren gehen ... 
... das war im August vor 35 Jahren ...
Wir gingen nebeneinander unter ihrem Schirm.
Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in einen Mülleimer.
"Lass uns zusammen durchweichen"
"ja"

Wir sahen uns noch ab und zu, zwischen Spitalaufenthalten und langem Schweigen lagen wir hin und wieder in einem zerwühlten Bett. Ihre Eltern gingen aus dem Haus, wenn ich zu Besuch kam … einmal, schon in der Haustür auf dem Weg nach draussen, umarmte mich ihr Vater. "Scheisse, Mann" sagte er.

Helena ist dann mit nicht mal 30 gestorben, als ich schon weggezogen war aus der Stadt in der wir beide damals lebten.

Ja, es war irgendwie "nahtlos", berührend und einfach mit ihr, wie ein Bild von Jackson Pollock.
Und nie wieder hab ich solch ein Kompliment bekommen … wie ihr einfaches, kleines, leises "ja".




......
für M.H. 🌹☂️🧚‍♀️


geschrieben/gepostet am 16./18. August 2019 in Luzern

13 August, 2019

Viewing

Roadtrain ... beim Sandfire Roadhouse, Western Australia


Vor vielen Jahren sprach ein Freund vom Sehen.

Er erklärte uns, dass er selber, auch beim Autofahren, das „defokussierte, geweitete Sehen“ praktizierte.
Dabei macht man genau das Gegenteil vom üblichen sich Konzentrieren und Starren und Glotzen und bewusst Hinschauen.
Es ist eher ein Loslassen, ein SichHingeben, den Blick weiten, eine Art von schwebender Aufmerksamkeit.
Es erinnert viel mehr an eine Meditation, als an unsere Alltagsaufmerksamkeit. Die Augen sind auf Breitwand eingestellt.
Nichts denken, nichts wollen, nichts erwarten, angstfrei und entspannt in sich selber ruhen.
So bleibt man, wie die eigenen Augen, relaxt und verpasst trotzdem nichts. Mir selber kommts sogar vor, als bekomme ich so viel mehr mit als im `StandartZustand` 

Auf meinen Reisen bin ich viele tausend Kilometer gefahren. In dieser Zeit war ich tage- wochenlang - oft monatelang allein auf der Strasse unterwegs, habe nur für die profanen Notwenigkeiten angehalten.

Die USA waren wunderbar zum Fahren, vor allem 2013 in der Wüste von Nevada war ich, auf den ewigs langen, graden Strassen, mehr als nur glücklich. 
Die Staaten sind zwar weitläufiger und, je nach Region, dünner besiedelt als Europa ...

... der totale Kick war jedoch Australien:
Als ich erstmal aus Sydney und dem relativ europäischen New South Wales raus war, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu fahren. 
Der Sog der Strasse nahm mich mit sich und ich fuhr, abgesehen vom Schlafen usw. 5 Tage durch bis es nicht weiter ging, weil ich mit den Vorderrädern, irgendwo nördlich von Perth, am Saum des Indischen Oceans stand.
Später … nach ein paar Tagen Ruhe auf einem Campingplatz am Strand, packte mich die Reise- und Fahrsucht wieder 
I kept driving 'n' driving … 
und ich begann sogar, das Schlafen teils „out-zu-sourcen“ aus der Nacht. 

Denn oft fuhr ich bis die Sonne untergegangen war und krabbelte von der Ladefläche wieder in den Fahrersitz sobald es hell wurde.
So schlief ich, wenn ich während des Tages, unterwegs, müde wurde, im Auto, fand eine „Technik“, eine Meditation, ähnlich der des „geweiteten Blicks“ nur eben mit geschlossenen Augen, die mich in wenigen Minuten eindösen liess und mich eben so zuverlässig nach ca. 10-15 Minuten wieder weckte. Denn ich durfte nicht lange schlafen, weil der Motor laufen musste um die Aircontion zu betreiben, sonst wäre das Auto zum Bratrohr geworden.
Nach dem Nickerchen war ich jeweils fit  für die nächsten paar hundert Kilometer.

So flog ich nach Norden, im Einklang mit dem Wagen, den ich inzwischen 
Flat White* getauft hatte und mir selber. 
Ich lebte in einer anderen Welt, war mein eigner Herr, traf meine Entscheidungen nach meinem Gutdünken und gab mich ganz meiner Lust und meinen Launen hin. Abgeschnitten von den repressiven Systemen der westlichen Arbeitshaltung galt es neue Strukturen zu erfinden … und das war gar nicht so einfach wie`s vielleicht scheint.

Ich fuhr also mit dem geweiteten Blick, der übrigens auch das Herz und den Verstand im Verhältnis zu dem, was wir als die "reale Welt" kennen, weitet und für Neues öffnet.
Aber auch Vieles was ich tat und dachte war neu, ungewohnt für mich und oft fühlte es sich unausgegoren oder einfach hirnrissig an. Ich dachte damals, mit dieser Fahrerei würde ich meine Zeit verschwenden, viel zu wenig sehen vom Land und mich nur stressen.

Das dachte ich, bis ich eines Tages, irgendwo oben in den wunderschönen Kimberleys, auf einer kurvigen und hügeligen Strasse, in einer sehr langgezogenen, etwas ansteigenden Kurve einen von diesen langen Roadtrains mir entgegenkommen sah. 
Er war noch weit weg, erst so gross wie ein Spielzeugauto und ich konnte die Strasse bis zu ihm gut überblicken, sah ihre Form und Biegung, den Winkel der Steigung, die seitliche Neigung der Trasse, den Radius der Kurve, nahm die Geschwindigkeit des Trucks und die beginnende Kränkung des Fahrerhauses relativ zur Strassenoberfläche wahr.

Mein, wochenlang im Modus der schwebenden Aufmerksamkeit trainiertes Hirn sendete plötzlich ein recht entspanntes Warnsignal … ein wenig wie ein Jingle in der Werbung eines Parfums für ältere Damen ... sanft auf einem Klavier gespielt, begleitet von einem Cello … und mir wurde klar, das der Trucker seine Geschwindigkeit und die Biegung der Kurve falsch eingeschätzt hatte.
In Australien fährt man links und ich wusste, er würde meine linke Fahrspur auch noch brauchen um die Kurve zu kriegen. Zum Abbremsen war es zu spät für ihn, er hatte 4 Anhänger hinter sich, die ihn schieben würden und ich spüre im meinen Eingeweiden, dass er nicht bremsen würde, weil das die Katastrophe perfekt gemacht hätte.

Ganz ehrlich ... manchmal denke ich mir Geschichten aus oder hab beim Schreiben ein oder zwei Gläschen getrunken, was meine Erzähle ein wenig bunter als die Wahrheit macht. 
Aber diesmal ist das nicht so ... es ist mein Ernst und es ist erst kurz nach Mittag und vor 4:00 am Nachmittag trinke ich nie ... also hört gefälligst zu! ...
... denn es geschah etwas, dass ich so noch nie jemandem erzählt habe.

Ich sah die Welt um uns herum, für, vielleicht ein paar Sekunden, in Zeitlupe, aus der Perspektive des Truckers. 
Ich sah, durch seine Augen, Flat White einige hundert Meter am Beginn der Kurve vor ihm, ich spürte die Neigung seines Fahrerhauses, die Intensität der Fliehkraft, die auf seinen Körper wirkte, ich nahm den Beginn des seitlichen Radierens seiner Reifen auf dem Asphalt wahr, während er das Lenkrad versuchte möglichst eng links zu halten und realisierte seine Weigerung zu Bremsen, sie war gleichzeitig meine eigene Weigerung, in dem beiderseitigen Wissen, dass das den Roadtrain unweigerlich in die Eukalyptusbäume crashen würde. 
Ich spürte, er war ein wenig verdutzt über seinen Fehler, aber ansonsten entspannt und bereit aus der kommenden Aufprall das Beste zu machen und ich wusste, dass er wusste, dass seine Karten weitaus besser waren als meine. 
Dann kam so etwas wie Fürsorge für mich in ihm auf. 
Ganz ruhig sagte er zu mir: 
„Fahr auf den Sandstreifen, dort vor dem Bäumen“

Die Vision brach ab ...
... ich schaute nach links … und da war er tatsächlich, ein vielleicht 15 Meter langer Streifen aus Sand und Kies etwa 30-40 Meter vor mir. Am Ende des Streifens lag ein grosser Haufen schwarzer Steine, jeder davon so gross wie ein Fussball, dahinter stand ein grosser Baum. Ich wusste es würde knapp werden und ich wusste aber auch es würde passen. 

Bloss nicht panisch bremsen jetzt, denn ich fuhr sicher noch 80 Stundenkilometer. 
Flat White war schwer und alt und hatte kein ABS. 
Er ging unter der Bremswirkung sanft in die Knie, in meinem rechter Fuss fühlte ich, wie sich die Spannung in der Carrosserie aufbaute und irgendwas in mir wusste ganz genau, wie weit ich es treiben konnte, bevor sie sich entladen würde, bevor der Wagen schleudernd ausbrechen würde. 
Sanft aber kraftvoll, energisch und klar, wie auf einem bockenden Pferd brachte ich ihn dazu die Spur zu halten und trotzdem schnell langsamer zu werden. 
Ich wusste, ich durfte erst im letzten Moment auf den Sand fahren, denn dort würde ich den Bremsweg nie einhalten können, ich musste ihn vorher so weit abbremsen, dass er friedlich im Sand landete.

Eine Stimme in mir sagte: „Gut so mein Junge!“ … ich glaube das war nochmals der Trucker, der mein Manöver beobachtete.
Einen Hauch zu schnell brachte ich Flat White in den Sand. Es knallte heftig und all mein Gerümpel flog im Auto herum, als ich die 20 cm vom Strassenbelag auf den Seitenstreifen runterfuhr. 
Ich fühlte der Sand war nicht tief und darunter irgendwas Festes, also traute ich mich etwas saftiger zu bremsen. 
In einer Staubfontäne kam Flat White knapp einen halben Meter vor dem Steinhaufen zu stehen.

Der Roadtrain rauschte, wie vorausgesehen, auf meiner  Fahrspur an mir vorbei. Steine prasselten auf die Seite von Flat White wie Hagel. 
Dann war alles vorbei. Ich liess mich in den Sitz sinken und der Trucker hupte drei mal langgezogen … seine Art danke zu sagen.
„Kein Ding mein Alter!“ dachte ich in seine Richtung und wusste, dass er mich hörte.

Was ich aber eigentlich erzählen wollte, ist, dass unter der dünnen Schale der Welt, die wir als real und sicher empfinden, ganz, ganz nahe, nur einen halben Millimeter entfernt, eine andere Wirklichkeit liegt, die nicht einen Deut unwirklicher ist als die, von der wir in unseren westlichen Gedankengebäuden, glauben, dass sie die einzig Wahre ist.
Und ich glaube, dass wir unendlich viel Energie darauf verschwenden, diese Illusion, die unsere Realität darstellt, aufrecht zu erhalten ... und ich fürchte, darum sind wir oft so müde und ausgelaugt und so aggressiv und traurig und, dass vielleicht die zunehmende Zahl von Depressionen auch damit zu tun hat. 
Uns gehen unsere Träume verloren, weil wir die Realität dieses Planeten aus den Augen verloren haben ... denkt mal drüber nach!

Jede Nacht erleben wir diese andere Realität, oder dann, wenn wir krank sind oder ein wenig Chemie schlucken oder ein Glas Whiskey, wenn wir geliebt werden oder lieben, wenn jemand stirbt, den wir liebten und einfach weg ist … für immer … 

… und „nein“ ich hab nichts getrunken … 
… noch nicht! ... denn gleich is 4:00h!

Also … locker bleiben und den Blick weit halten.


Flat White ... südlich von Cooktown, Queensland




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*„Flat White“ ist eine Bezeichnung für die Zubereitungsvariante eines Cappuccinos, der in der Regel mit Latte Art verziert wird. Der Name kam in den 1980er Jahren in Australien auf.  Er wird in der Regel in einer Cappuccino-Tasse serviert und besteht aus einem Espresso oder Ristretto doppio und feinporig aufgeschäumter Milch. Der auffälligste Unterschied im Vergleich zum Cappuccino liegt darin, dass ein Flat White einen intensiveren Kaffeegeschmack und eine geringere Milchschaumschicht aufweist.












    



aus Wikipedia

Entworfen 7. August ...
... überarbeitet und gepostet 13.8. 2019 in Luzern.