28 November, 2023

Exercising

 "Wen die Götter strafen wollen, dem erfüllen sie seine Wünsche"

Es ist Ende November, es regnet und es riecht nach Schnee.
Die Tropfen fallen langsamer als sonst, als würden sie sich drauf vorbereiten, heute in der Nacht oder morgen, ganz früh, zu kristallisieren.




An den letzten Winter kann ich mich kaum erinnern ... vielleicht weil er zu warm war, es nicht unter meinen Schuhen knirschte beim Laufen im Wald oder weil ich meine warmen Pullover heute ganz weit von unten/hinten aus dem Schrank kramen musste. 
"Dich hatte ich ja ganz vergessen" sagte ich zu einem, den ich vor ewigen Zeiten zur Schneiderin brachte und seit dem nicht mehr getragen habe.  

Vielleicht, aber auch weil einfach viel passiert ist, seit dem.

Im Mai kam die lang herbeigewünschte Pensionierung.
Wie immer so, war ich gut vorbereitet, ... dachte ich.
Mit Garten und Babysitting, mit Uni und 20%Mini-Job, mit OpaTaxi und Klimarettung glaubte ich mich gut gewappnet gegen Faulheit, Sofa und dem Tode entgegen dämmern.

Dann sass ich heute in meinem Lieblingscafé, blättere in der Zeitung rum und süffle meinen Schwarzen.


Eine Frau kam rein. Gross, dünn und in selbstgestrickte Wolle gepackt.
Sie stellte sich, mit dem Rücken vor den Tresen, presste ihren Schal vor den Mund, als ersticke sie einen Schrei.

Der Barmann sprach sie nicht an, vielleicht dachte er sie warte auf jemanden.
Aber - sie stand einfach da, ganz aufrecht, mit erhobenem Kopf und schaute, durch die hohen Bogenfenster nach draußen in den Regen, als könne sie nicht fassen was sie sah.
Sie stand lange da, bewegte sich nicht, den Schal noch immer vor dem Mund, der ganze Körper angespannt. Niemand sprach sie an, die Gäste gingen einfach um sie herum, wie man einem Baum oder einem Laternenmasten ausweicht.
Zeit schien für sie eine Angelegenheit der Anderen zu sein, nichts was mit ihr zu tun hätte.

Ich dachte an den Film "Die Zeitmaschine" von 1960 mit Rod Taylor und Yvette Mimieux.
Ähnlich wie "George" in der Maschine sitzt und zuschaut, wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Mode und Technik in irrwitziger Geschwindigkeit wechseln, wie Häuser gebaut werden und wieder abgerissen, so kam diese Frau mir vor, die in einer eigene Welt war, die nur so ähnlich ist wie unsere, aber einen fundamentalen Bruch, zu ihr hat.
Dann ging ein Ruck durch die Frau, sie liess das Ende des Schal fallen, sackte ein wenig in sich zusammen, wie jemand der unerwartet enttäuscht wird, drehte sich auf der Stelle zur Tür und ging hastig hinaus.

Mein Kaffee war kalt, die Zeitung interessierte mich nicht mehr, denn was ich gesehen hatte, erinnerte mich an ein Gefühl, dass ich seit Wochen mit mir trage.

Niemand sagt mir mehr, was ich zu tun habe, Nichts muss pünktlich erledigt sein, ich bin nur noch für mich verantwortlich, was ich heute nicht mache, das kann ich auch morgen machen oder nächste Woche oder ...

Darin sind die Zeiten, in denen ich dann doch Verpflichtungen übernehme, wie exotische Inseln in einem weit entfernten Archipel. Die Bewohner dieser Inseln sind alle ein wenig seltsam und wirken gestresst, oft an der Grenze dessen, was sie grad noch ertragen können. 
Vor allem aber - und ich entschuldige mich ausdrücklich bei allen die sich angesprochen fühlen ... also:
Vor allem aber - kommen sie mir alle vor wie Kinder, die mehr oder weniger hilflos ihrem Leben ausgeliefert sind.

Natürlich bin ich dabei nicht völlig ohne Selbstreflexion, denn
1. könnten ein Grossteil der Bewohner des Archipels, vom Alter her, ja wirklich meine Kinder sein
und
2. will ich mich - nach nur einem halben Jahr Rentnerdasein - hier nicht gross aufblasen, denn wer weiss schon, was noch alles kommt !

Trotzdem - mein Leben verlangsamt sich. Die Sprintstrecken werden seltener und kürzer und ich brauche nachher die mehrfache Zeit, als noch vor ein paar Jahren, um mich zu erholen.
Ich schlafe 7-8 Stunden pro Nacht und dann am Nachmittag noch mal eine halbe.


So sitze ich und schreibe wieder - das 1. Mal seit über einem Jahr, während draussen die Tropfen fallen, über die noch nicht entschieden ist, wann sie zu Flocken werden.
Die Welt ist einfach eine andere, wenn sie mit Schnee bedeckt ist.

Auch bei mir ist noch nichts entschieden.

Ich übe an einem neuen Leben und möchte den sehnsüchtig lächelnden Gesichter, die mich hoffnungsvoll fragen: 
"Na, wie ist es denn in der Pension?" 
antworten ... 
"frag mich morgen wieder!"

So, wenn ihr mich dann irgendwann in einem Café stehen seht, meinen Schal vor den Mund gepresst und aussehe, als sei ich woanders, auf einer anderen Insel als der Euren - irgendwo weit draussen, vielleicht am Rande des Südchinesischen Meeres, dann lasst mich einfach. 

Irgendwann zucke ich dann zusammen, lasse das Schalende los und gehe ...



geschrieben und gepostet am 28. Nov. 2023 irgendwo am Fusse der Alpen.