Als ich vor 20 Jahren in das Haus einzog, in dem ich heute noch lebe, war das Nachbarhaus noch bewohnt gewesen. Die ersten 2 Jahre wohnte ich im Erdgeschoss und konnte das Haus nicht sehen von dort aus, wegen der BĂŒsche und der BĂ€ume im Garten. SpĂ€ter dann zog ich 2 Etagen nach oben und hatte nun freien Blick auf eine Wohnung im 4 Stock, hinter der grauen, in die Jahre gekommene Fassade, auf die tags dunklen und abends und nachts erleuchteten Fenster.
Es gab keine VorhÀnge oder Gardinen, nur, je nach Jahreszeit versperrten mir die Zweige des alten Kirschbaumes und einer grossen Esche den gÀnzlich ungehinderten Blick.
In der Wohnung, in die ich hinein sehen konnte, lebte ein junges Paar. Er gross und krÀftig mit dunklen, lockigen Haaren und immer gebrÀunter Haut. Sie kleiner und zierlich mit blonden glatten Haaren und einem Engelsgesicht - soweit das aus der Entfernung von ca. 12 Metern erkennbar war.
Die beiden schienen schon eine Weile ein Paar zu sein, denn ihre Bewegungen liefen geĂŒbt umeinander herum, sie standen sie nie gegenseitig im Weg, selbst dann nicht, wenn sie in der kleinen KĂŒche gemeinsam kochten.
Gelegentlich hatten sie Freunde zu Besuch. Ich konnte zwar nicht in ihre Stube blicken, weil diese auf der anderen Seite des Hauses lag, aber es tauchten an diesen Tagen immer wieder lĂ€chelnde Gesichter in der KĂŒche auf und es wurden GlĂ€ser nachgefĂŒllt und wenn das Fenster offen stand, hörte ich viele verschiedene Stimmen und gemeinsames Lachen.
Ich dachte die beiden mĂŒssten wohl glĂŒcklich sein, denn ab und zu sah ich sie sich umarmen und kĂŒssen und manchmal in der Nacht oder am Sonntagmorgen hörte ich sie Sex machen.
So nannte ich die beiden fĂŒr mich "Ginger und Fred", weil sie so geschickt umeinander herum tanzten beim Kochen in der kleinen KĂŒche.
Ich konnte von meiner Wohnung aus auch die EingangstĂŒre des Hauses sehen und ich konnte sie klappen hören, wenn jemand kam oder ging. Wenn es Dunkel war, sah ich die Lichtschimmer der anderen Wohnungen zwischen den Zweigen und hörte am Tag das Husten und GesprĂ€che und das Klopfen der Kochlöffel auf die TopfrĂ€nder vor dem Mittag.
Ein ganz normales Wohnhaus in einem ganz normalen Wohnquartier in einer ganz normalen Stadt in der ganz so normalen Schweiz.
Intermezzo:
In dem Haus in dem ich selber lebe, lebt eine Familie, deren Kinder - ein Junge und ein MĂ€dchen - noch klein waren als ich hier einzog.
Nun sind die beiden in den 20 Jahren erwachsen geworden. Die Tochter hat dann irgendwann geheiratet und ein Baby bekommen und ist - grad jetzt - bereits wieder schwanger.
Der Sohn lebt lange noch bei den Eltern. Er machte schon immer einen etwas dĂŒmmlichen Eindruck, lĂ€uft auch heute noch wie jemand der dumm ist herum. Nach vielen lautstarken Auseinandersetzungen in der Familie, die ich akustisch begleiten durfte, ist er dann letztlich in die Wohnung direkt neben seinen Eltern gezogen. Lebt, den GerĂ€uschen und GesprĂ€chen und dem Verkehr zwischen den Wohnungen, begleitet vom stĂ€ndigen TĂŒr-Auf / TĂŒr-Zu, nach zu urteilen, jedoch weiterhin tatsĂ€chlich noch immer "daheim".
Mama kocht wohl noch fĂŒr ihn und nach den ĂŒbervollen WĂ€schekörben, die sie in die WaschkĂŒche schleppt, wĂ€scht sie auch noch seine WĂ€sche.
Aufgrund seiner DĂŒmmlichkeit, die er gut sichtbar vor sich her trĂ€gt, hat ihn eine ehemalige Geliebte von mir "Dumpfbacke" getauft - was den Sachverhalt einerseits aus meiner subjektiven Beurteilung rĂŒckt, andererseits ein Grobskizze seines Habitus vermittelt.
Also: Dumpfbacke mag inzwischen so um die 25-30 Jahre alt sein. Eines Tages sah ich eine junge Frau aus seiner Wohnung kommen, sie grĂŒsste mich höflich und lĂ€chelte. Ich sah sie von da an öfters im Haus und ich sah sie wie sie volle WĂ€schekörbe in die WaschkĂŒche schleppte und identifizierte eine neue, Stimme im Familienkonzert unter mir. Dumpfbacke hatte offenbar eine Freundin. Ich freute mich einerseits fĂŒr ihn, andererseits schwante mir aber auch nichts Gutes.
Es kam wie es kommen musste - eines Abends als ich von der Arbeit kam, stieg die junge Frau mit zwei Koffern in ein Taxi, wĂ€hrend Dumpfbacke am Fenster hing und trĂ€nenĂŒberströmt ihren Namen brĂŒllte.
Ich neige eben einfach dazu im falschen Moment am richtigen Ort zu sein.
Dumpfbacke, hatte natĂŒrlich mitgekriegt, dass ich unfreiwillig Zeuge des Dramas geworden war.
Seit dem, wenn wir uns im Treppenhaus oder auf der Strasse treffen, lĂ€sst er den Kopf hĂ€ngen und murmelt nur eine abgehakte BegrĂŒssungsformel.
ZurĂŒck zu Ginger und Fred.
Ihre nĂ€chtlichen und sonntagmorgenliche EntzĂŒckensschreie und sein grollendes Lustgestöhn wandelten sich mit der Zeit in hochfrequentes Gekreische und gebrĂŒllte Tiraden. In der KĂŒche war jeweils nur noch einer von beiden zu sehen und die Partys mit den Freunden wurden zusehens seltener.
Einmal traf ich Fred an der Bushaltestelle. Ich sagte freundlich "Hallo" weil er ja nun ein alter Bekannter fĂŒr mich war. Er jedoch, der von seiner Wohnung nicht in meine gucken konnte, da das Nachbarhaus ein paar Meter weiter unten am Hang liegt, kannte mich gar nicht und schaute mich nur missmutig an ohne zu antworten.
Ein anderes Mal traf ich Ginger im Supermarkt an der Ecke, sie hatte ĂŒbrigens wirklich ein Engelsgesicht. Da ich offenbar aus meiner Begegnung mit Fred nichts gelernt hatte, sagte ich wieder "Hallo" auch sie antwortete mir nicht, schaute mich nur kurz aus traurigen Augen an und rang sich ein knappes LĂ€cheln ab.
An einem Samstagmorgen hörte ich dann fremdartig GerĂ€usche, hĂ€mmern und MĂ€nnerstimmen die knappe Befehle gaben und schlagende AutotĂŒren. Als ich aus dem Fenster blickte sah ich einen Möbelwagen im Hof und Möbelpacker hin und her laufen und Dinge tragen.
Ginger sass im Schlafzimmer im offen Fenster, die FĂŒsse auf der Fensterbank, die Knie angezogen.
Sie schaute kurz zu mir hoch, ich winkte ihr. Ich glaube sie lÀchelte ihr SupermarktlÀcheln, aber das kann ich mir auch eingebildet haben, jedenfalls sie stand auf, schloss das Fenster und ging in die Tiefe der Wohnung davon.
Es ist schon so: Ich neige eben einfach dazu im falschen Moment am richtigen Ort zu sein.
Ich sah Ginger von da an allein in der Wohnung. Ich sah sie allein in der KĂŒche kochen und allein in den Ausgang gehen am Abend. Einmal sah ich einen fremden Mann, der sie im Schlafzimmer umarmte, aber sie drĂŒckte ihn von sich weg.
Irgendjemand fÀllte die Esche in unserem Garten, ein grösserer Teil der Fassade des Nachbarhauses war nun von unserem Haus aus zu sehen.
Die Bewohner, auch Ginger, hĂ€ngten sich VorhĂ€nge an die Fenster und verbargen so ihr Leben vor der Welt. Ginger sah ich nur noch gelegentlich, durch die Zweige des alten Kirschbaumes, wenn sie ihre VorhĂ€nge am Morgen aufzog oder schloss am Abend und beim Kochen, denn in der KĂŒche hatte sie keine.
Nach ein paar Monaten oder es mag vielleicht lÀnger gewesen sein, so genau kann ich mich nicht mehr erinnern, stand wieder ein Möbelwagen im Hof.
Ich befĂŒrchtete, dass nun auch Ginger gehen wĂŒrde, aber es war ein alter Mann ein paar Kartons zum Laster trug und sie fast zĂ€rtlich auf die LadeflĂ€che stellte.
Ich traf Ginger hier und da im Quartier und wir gewöhnten uns an beide "Hallo" zu sagen.
Ein Mal wartete ich hinter ihr in der Schlange vor der Kasse des Supermarktes.
Sie drehte sich zu mir herum und sagte: "Sie wohnen oben, nicht wahr" womit sie wohl auf das GefÀlle des Hangs, an dem unsere beiden HÀuser stehen, Bezug nahm, "Ich sehe Sie manchmal auf dem Balkon"
Das "Sie" gefiel mir gar nicht, aber ich war damals um die 40 und sie bestenfalls knapp ĂŒber 20, also nahm ichs hin.
Jedenfalls hatte wir scheinbar, von diesem Tag an, den unausgesprochenen Deal miteinander, uns zuzuwinken wenn wir uns hinter den Fenstern oder auf dem Balkon sahen.
Es muss wohl ein paar Wochen spĂ€ter gewesen sein, ich hatte grad einen Riesentopf Dal gekocht und hockte mich mit einem Kafi auf den Balkon. Ginger sass wieder mit angezogenen Beinen auf der Bank des offenen Fensters. "Pass auf, dass Du nicht runterfĂ€llst" rief ich rĂŒber.
Sie lachte und damit waren wir beim "Du".
"Muss jetzt sowieso aufstehen und was mal was essen" rief sie zurĂŒck.
Ich informierte sie ĂŒber mein Dal, worauf hin sie sich schauspielerisch ĂŒbertrieben um den Mund leckte.
So lud ich sie zum Essen ein und war erstaunt, dass sie zusagte und 15 Minuten spÀter an meinem Esstisch sass und Dal löffelte.
Schon immer mochte ich Menschen, die WidersprĂŒche in sich tragen.
Ginger, die in Wirklichkeit Patrizia hiess, aber sagte, alle wĂŒrden sie nur Pritty nennen, was sie tatsĂ€chlich auch war, mampfte mit dem rot angemalten Mund in ihrem Engelsgesicht wie ein Bauarbeiter.
"Schmeckt`s Dir" fragte ich etwas scheinheilig "Mmmpf" sagte sie und grinse mit vollen Backen und "is echt prima" bevor sie den nÀchsten Löffel voll reinschob.
Pritty war so deutsch wie ich, kam aus Leverkusen, keine Ahnung wo das is.
Wir redeten ĂŒber die Schweiz und die komischen kleinen Problemchen, hier als Deutscher zu leben, ĂŒber "Fred", der im wahren Leben Frank hiess (nich so weit daneben, nicht wahr?!), den sie aber nur "Das Arschloch" nannte, der mit anderen Frauen rumgemacht hatte - unter anderem mit ihrer Freundin Simone, die das dann alles, in einem Streit mit Frank und Pritty herausbrĂŒllte hatte, auf einer dieser Partys.
"Du musst unbedingt mal zu mir zum Essen kommen" presste sie zwischen Linsen und GemĂŒse hindurch, wĂ€hrend sie das kurcumagelbe Speichelrinnsal, das dabei aus ihrem Mundwinkel floss, mit dem HandrĂŒcken wegwischte.
So sass ich ein paar Tage spÀter in ihrer Stube, die ich von meiner Wohnung aus nie gesehen hatte. Der Raum war sparsam möbliert. Sie bemerkte meinen Blick "Der grösste Teil der Einrichtung hat dem Arschloch gehört ... hat er alles mitgenommen"
So lebten wir, nur durch den Garten getrennt, eine distanzierte Zweisamkeit, riefen uns Scherze und gelegentlich Einladungen zu.
Das Haus, in dem sie lebte, lag wirklich irgendwie "im Loch" es war dĂŒster dort unten und selbst im Sommer schaffte die Sonne es nur fĂŒr zwei bis drei Stunden pro Tag es zu erreichen.
Vielleicht deswegen, aber auch weil es gammelig war, die Vermieter es nicht pflegten und das Treppenhaus verdreckt war, weil es niemand putzte und alles ein wenig moderig roch, zogen einer um den anderen Mieter aus, so dass dann schliesslich nur noch Pritty und ein Ehepaar dort lebten.
Die Miete war fĂŒr Schweizer VerhĂ€ltnisse spottbillig, was bei Zustand des Hause, nicht wunderte und da ich zu der Zeit immer ein wenig knapp mit Geld war und natĂŒrlich weil ich Pritty immer lieber mochte, ĂŒberlegte ich, ob ich in eine der leeren Wohnung ĂŒbersiedeln sollte.
Als ich das Pritty erzĂ€hlte, schĂŒttelte sie langsam, fast traurig ihren Kopf. Sie schlug den Blick nieder, nestelte an ihren Fingern rum und sagte "mach das nicht, ich gehe bald weg und das Ehepaar drĂŒben zieht auch aus ... dann bist Du allein in diesem alten Kasten"
Ich neige wirkich einfach dazu, im falschen Moment am richtigen Ort zu sein.
Sie zog aus ohne sich zu verabschieden an einem Tag, an dem ich nicht zuhause war. Sie war einfach weg und die, nun wieder vorhanglosen, Fenster starren mich vorwurfsvoll an.
Das Haus unten am Hang steht leer seit dem.
Manchmal, wenn es Abend wird und eine Windboe in den Zweigen des Kirschbaumes, dafĂŒr sorgt, mir fĂŒr einen Moment einen Blick auf die oberen Etage zu geben, dann sehe ich Pritty im Fenster hocken, mit angezogenen Knien und höre sie rufen "Kommste zum Essen rĂŒber?"
Aber ich antworte nicht mehr, damit mich meine Nachbarn nicht fĂŒr verrĂŒckt halten.
Manchmal jedoch nicke ich und winke.
Geschrieben und gepostet am Freitag dem 13. August 2021 in LU
NACHTRAG:
Heute haben sie begonnen, das Haus unten am Hang, ab zu reissen.
12.12.22