30 Juni, 2020

Storytelling I



Irgendwann in den 80ern explodierte in der Ukraine ein Atomkraftwerk. 

Damals lebte ich in Karlsruhe und wir sassen alle vor dem Fernseher und schauten, wie sich die atomare Wolke langsam auf uns zu bewegte.
Meine Freundin und ich entschlossen uns davor zu flüchten. Da die Wolke von Ost nach West trieb und den Anschein machte, sie würde die Richtung beibehalten, schien Südfrankreich ein guter Fluchtpunkt zu sein.


Wir liehen uns ein Zelt, packten unseren Kram, organisierten eine Mitfahrgelegenheit und waren in zwei Tagen am Mittelmeer in Cassis.
Ich weiss nicht mehr wie lange wir blieben, aber es waren gute Tage.

Auf dem Rückweg trampten wir, kamen recht gut voran, ein Pärchen werden viel schneller mitgenommen und so waren in nur einem Tag bis kurz vor Lyon gekommen.


An irgendeiner Mautstation standen wir dann wieder da mit dem Daumen in der Luft.

Ein Kombi hielt an ein Mann öffnete die Fahrertür und brüllte: “Rapido!! … Vite, je suis pressé.” 

Wir hopsten ins Auto. Der Mann stellte sich als Paul vor. Auf der Ladefläche des Kombis standen Kisten mit Gemüse und solche voll Wein, die rumpelten und klirrten.
Mein Französisch ist kaum nennenswert, aber meine Freundin konnte sich verständigen.

Sie übersetze ein wenig und Paul konnte etwas Englisch, so dass die Kommunikation funktionierte.  Über die üblichen Fragen und dem allseitigen Gefluche über die “Atomkraft” und die “Russen” wurde es draussen langsam dunkel. 

Paul bot uns an, bei ihm daheim im Gästezimmer zu schlafen. Das nahmen wir noch so gern an, da unser Geld zuende ging und wir keine Ahnung hatten wo wir schlafen sollten.

Das Haus war mehr eine Villa, umstanden von grossen Kiefern und, soweit ich im Dunkeln erkennen konnte, einem grossen Garten. 

Am nächsten Morgen gab es ein kleines Frühstück in einer monumentalen Küche mit Aussicht auf den Nachts vermuteten Garten.
Paul hatte es wieder eilig. Wir fragten ihn, wohin er müsse.

Ins Restaurant - er war Koch und musste Vorbereiten ... SEIN Restaurant sagte er.


Wir plauderten bei Milchkaffee und Croissants ein wenig über das Kochen.

Dann sagte Paul etwas was ich nicht wieder vergessen habe: 

“Die grössten Feinde des Lebens und des Kochens sind Lieblosigkeit und Geiz”

Er bot uns an, uns noch zur Autobahn zu bringen, damit wir weiter trampen konnten.

Als wir das Haus verließen, las ich die eingeprägte Aufschrift auf dem kupfernenen Klingelschildchen

“Paul Bocuse”.


Vor einer Weile sah ich einen alten Film über ihn. Er stand am Kochtopf und sagte, für ein gutes Essen braucht es einen guten Wein. Dann hielt er eine Flasche Pinot Noir in die Kamera und betonte “... so einen wie diesen!” 

Er goss den Wein in den Topf und bei jedem “Glugs” den die Flasche machte, zählte Paul: 

“50 Franc, 100 Franc, 150 Franc …”

Als die Flasche leer war, war er bei 600 angekommen und lachte dazu. 


Ich hoffe er sitzt jetzt irgendwo auf einer Wolke … neben ein paar hübschen Engelchen … in einem weissen Liegestuhl und in der Hand ein Glas Pinot Noir. Danke Dir Paul!


Wenn mich also mal jemand fragt, wieviel denn von einer bestimmten Zutat an ein Essen kommt, dann sage ich immer: “einfach nicht geizig sein” … das mit der “Liebe” erwähne ich nicht, denn, wenn man nicht geizig ist, kommt die Liebe von allein.



geschrieben 27. Juni und gepostet 30. Juni 2020, Luzern