18 August, 2019

Missing


Jackson Pollock, Unformed Figure (1953)

Helena begegnete mir in der Mitte der 80er Jahre.
Damals, obwohl schon fast 30, studierte ich tagsüber, verdiente mein Geld als Taxifahrer, Kellner, Barmann, Tischler, Zeitungsbote und Roadie und holte in den Nächten meine verpasste Kneipenphase nach. 

Nie zuvor, aber auch nie wieder danach, lebte ich in einem so breit gefächerten sozialen Umfeld. 
Die Menschen meiner Tage an der Hochschule, in den diversen Jobs und die Menschen meiner Nächte in den Bars und Discos hatten eine überschaubare Schnittmenge. 
Ganz an den äusseren Rändern der Gruppen bewegten sich die Sonderlinge, die Bestaunten und die Geächteten, die Gemiedenen und die Umschwärmten.

Eine der auffälligsten Figuren war sicher Helena.
Sie war klein und zart und äusserlich eher unauffällig, fast schon wirkte sie jungenhaft mit ihrem kurzen, dünnen Haar und den knappen weiblichen Rundungen, sie war laut und direkt und ehrlich, trug selbstgeschneiderte, zum Teil völlig abgedrehte Kleider und wer in ihre Nähe kam, spürte ihre ausgeprägte Präsenz und ihre klare innere Kraft. 
Wer also mit seinem Leben nicht zurecht kam, und das waren viele von denen, um mich herum, damals. Wem seine Liebesbeziehung entglitt oder wer eine anvisiert hatte, aber nicht wusste, wie aufgleisen, der redete mit Helena. Nicht nur, dass ihre Ratschläge eine aussergewöhnlich hohe Trefferquote hatten, allein mit ihr zu reden, machte den Tag irgendwie heller und die Nächte wohliger.

Als ich das erste Mal mit ihr sprach, schenkte sie mir eine Art von absolut ungeteilter Aufmerksamkeit, stellte die genau richtigen Fragen und brachte mich auf leisen Flügel dazu, Dinge über mich zu erzählen, die ich mir selber noch nie so bewusst gemacht hatte, hob mir Zusammenhänge über den inneren Horizont, die zuvor dahinter verborgen gelegen hatten. Sie machte, dass ich mich fühlte wie sich meine Hand anfühlt, wenn sie in den genau passenden Handschuh schlüpft. 
Wir trafen uns von da an, zuerst mehr oder weniger zufällig, dann zunehmend verabredeter auf unseren Kneipentouren und auf Partys, in den folgenden Wochen immer häufiger.

Langsam begann ich  in ihren wasserblauen Augen zu ersaufen und träumte eines Nachts davon, wie meine Finger durch ihr dünnes, glattes Haar glitten und ihr Kopf in meine Hand sank. Ich traf sie am nächsten Tag beim Einkauf. Sie schaute mich mit leicht seitlich geneigtem Kopf an, wirkte zuerst ein wenig verdutzt, dann lächelte sie umarmte mich und flüsterte "ja" in mein Ohr. 

Auf die nächsten Party, für die wir locker verabredet waren, kam sie lange nach Mitternacht hereingeschneit, nie werde ich das quitschgrüne Kleidchen mit den knallroten Rosenblüten und ihre dünnen Beinchen in den klobigen schwarzen Springerstiefeln vergessen, die spiddeligen, kurzen Haare mit rosa Schnippgummis zu unzähligen Zöpfchen gebunden, erinnerte sie am ehesten an eine Mischung aus Pipi Langstrumpf und einem furchtbar verunglückten Jackson Pollock.
Sie steuerte schnurgerade auf mich zu, baute sich vor mir auf, indem sie die Hände in die schmalen Hüften stemmte und unangemessen laut verkündete: "Alter, heut Nacht leg ich Dich flach!" 
Dann zog sie, den rechten, Stiefel aus, tunkte den nackten Fuss in eine der dafür von der Wohngemeinschaft bereitgestellte Schüsseln voll Farbe, stützte sich auf meiner Schulter ab und drückte ihren Fuss zwischen all die anderen Abdrücke, die dort schon an der Wand waren. Dann liess sie sich breitbeinig auf meinen Schoss plumpsen.

Helena nahm mich, wie versprochen, eine Frau, ein Wort.
So wurden wir irgendwie ein Paar, für ein paar Monate, denn jeder von uns beiden steckte noch in einer "richtigen" Beziehung.
An dieser wollte sie auch nicht rütteln … denn Helena war neben ihrem schrankenlos burschikose Auftreten, neben den durchsoffenen und durchgemachten Nächten, neben ihrer kompromisslos liebenswerten Art auch noch praktizierende Christin und sang im Kirchenchor.
Ich hab sie übrigens mal singen gehört, ihre Stimme war so klar wie ein Novembermorgen nach einer klirrend kalten Nacht.

Wir versuchen mehrmals, wegen der "richtigen" Beziehungen, mit unseren Schäferstündchen und -nächten aufzuhören. Was sich jedoch als nicht so leicht durchführbar erwies.
Ich erinnere mich, nach einer dieser "vernünftigen" Trennungen, trafen wir uns zufällig auf einem Stadtfest, sagten uns artig "hallo", machten ungewohnt erwachsene Konversation miteinander, über Bekannte und Jobs und … was weiss ich denn noch. Es fühlte sich jedenfalls fremd und saublöde an. Dann, der Smalltalk war am versiegen, schauten wir uns an.
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, lächelte und nickte. Als Nächstes sassen wir in einem Taxi, dass uns zu meiner Wohnung fuhr.
"Die Schwerkraft ist ein Scheissdreck, gegen das, was uns zueinander zieht!" sagte sie nachher, als der Morgen graute.
"ja"

Auch Helena hatte mehre Jobs, studierte Malerei und engagierte sich kirchenseits für obdachlose Frauen. Ihre "richtiger" Freund, den sie eines Tages heiraten wollte und Kinder mit ihm haben, beanspruchte auch seinen Anteil ihrer Zeit und Energie.
So kam es, dass wir uns tatsächlich irgendwann seltener trafen.

Ich begann einen "richtigen" Job, der sich mit meinem nächtlichen Streunen nicht vertrug und Helena wurde krank und bekam wenig später die Diagnose: Lymphdrüsenkrebs.
Sie verkündete das in gewohnt lauter und liebenswert rückhaltlose Weise auf der Party zu ihrem 26 Geburtstag.

Sie verschwand von der Bildfläche bald danach, in irgendwelche Spitälern und Therapien. Facebook und Mobiltelefone gab's noch nicht und keiner der Freunde wusste so recht wo sie war und wie es ihr ging. Wir lebten unser Leben weiter und ab und zu erzählte mal jemand, was er so über sie gehört hatte. Ich blieb meist still, denn mein Herz fühlte sich jedes Mal an, als sei es auf eine heisse Herplatte gefallen, wenn ich an sie dachte.
Ich hielt Distanz, kümmerte mich um Job und "richtige" Beziehung und den Rest von dem Zeugs, den man in diesem Alter für wichtig hält.

Eines Abends klingelte mein Telefon. Helenas Vater, den ich vom Sehen kannte, war dran und bat mich, sie mal zu besuchen. Sie würde in den nächsten Tagen aus dem Spital nach Hause kommen, es gehe ihr Recht gut und sie habe nach mir gefragt.

Sie war noch dünner geworden, trug eine Marilyn Monroe Perücke und ihre blassblauen Augen waren noch blasser und unnatürlich gross. 
Trotzdem war sie schön, eine Schönheit die jeden Moment vom Wind weggeweht werden konnte und darum um so kostbarer schien.
"Kack-Chemo" sagte sie und zeigte auf ihre Haarpracht.

Ihr zukünftiger Ehemann hatte sie verlassen und die eigene Wohnung hatte sie aufgeben müssen, lebte wieder bei den Eltern.
Sie brauche dringend  Sex sagte sie mir und mit uns beiden, sei das immer so "nahtlos" gegangen ... 
… sie sagte tatsächlich " nahtlos" … und das war das genau richtige Wort dafür.
Ob sie Sonntag zu mir kommen könne, fragte sie, denn hier bei ihren Eltern … " na, ja!"
... aber erst am Nachmittag, ergänzte sie, denn morgens wolle sie noch in den Gottesdienst gehen.

Am Sonntag läutete es sehr früh an meiner Tür. Als ich völlig verpennt öffnete, stand Helena dort, klein, zart, jetzt mit Baseballcap, statt Perücke auf dem haarlosen Kopf.  
Fast schüchtern sagte sie " ... das mit dem Sex und so weiter" … sie habe sich nun doch entschlossen, zu mir zu kommen, statt der Kirche zu geh'n.

Wir verbrachten einen Tag im Bett und halb angezogen auf dem Balkon mit Kaffe und Kuchen und später mit Pizza, während der Regen in den Bäumen rauschte
"Du hattest also die Wahl zwischen dem Lieben Gott und mir?" fragte ich beim Rotwein.
"ja" sagte sie leise und legte den Kopf an meine Schulter. 
Dann wollte sie spazieren gehen ... 
... das war im August vor 35 Jahren ...
Wir gingen nebeneinander unter ihrem Schirm.
Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in einen Mülleimer.
"Lass uns zusammen durchweichen"
"ja"

Wir sahen uns noch ab und zu, zwischen Spitalaufenthalten und langem Schweigen lagen wir hin und wieder in einem zerwühlten Bett. Ihre Eltern gingen aus dem Haus, wenn ich zu Besuch kam … einmal, schon in der Haustür auf dem Weg nach draussen, umarmte mich ihr Vater. "Scheisse, Mann" sagte er.

Helena ist dann mit nicht mal 30 gestorben, als ich schon weggezogen war aus der Stadt in der wir beide damals lebten.

Ja, es war irgendwie "nahtlos", berührend und einfach mit ihr, wie ein Bild von Jackson Pollock.
Und nie wieder hab ich solch ein Kompliment bekommen … wie ihr einfaches, kleines, leises "ja".




......
für M.H. 🌹☂️🧚‍♀️


geschrieben/gepostet am 16./18. August 2019 in Luzern