![]() |
Jackson Pollock, Unformed Figure (1953) |
Helena begegnete mir in der Mitte der 80er Jahre.
Damals, obwohl schon fast 30, studierte ich tagsĂŒber, verdiente mein Geld als Taxifahrer, Kellner, Barmann, Tischler, Zeitungsbote und Roadie und holte in den NĂ€chten meine verpasste Kneipenphase nach.
Nie zuvor, aber auch nie wieder danach, lebte ich in einem so breit gefÀcherten sozialen Umfeld.
Die Menschen meiner Tage an der Hochschule, in den diversen Jobs und die Menschen meiner NĂ€chte in den Bars und Discos hatten eine ĂŒberschaubare Schnittmenge.
Ganz an den Àusseren RÀndern der Gruppen bewegten sich die Sonderlinge, die Bestaunten und die GeÀchteten, die Gemiedenen und die UmschwÀrmten.
Eine der auffÀlligsten Figuren war sicher Helena.
Sie war klein und zart und Ă€usserlich eher unauffĂ€llig, fast schon wirkte sie jungenhaft mit ihrem kurzen, dĂŒnnen Haar und den knappen weiblichen Rundungen, sie war laut und direkt und ehrlich, trug selbstgeschneiderte, zum Teil völlig abgedrehte Kleider und wer in ihre NĂ€he kam, spĂŒrte ihre ausgeprĂ€gte PrĂ€senz und ihre klare innere Kraft.
Wer also mit seinem Leben nicht zurecht kam, und das waren viele von denen, um mich herum, damals. Wem seine Liebesbeziehung entglitt oder wer eine anvisiert hatte, aber nicht wusste, wie aufgleisen, der redete mit Helena. Nicht nur, dass ihre RatschlÀge eine aussergewöhnlich hohe Trefferquote hatten, allein mit ihr zu reden, machte den Tag irgendwie heller und die NÀchte wohliger.
Als ich das erste Mal mit ihr sprach, schenkte sie mir eine Art von absolut ungeteilter Aufmerksamkeit, stellte die genau richtigen Fragen und brachte mich auf leisen FlĂŒgel dazu, Dinge ĂŒber mich zu erzĂ€hlen, die ich mir selber noch nie so bewusst gemacht hatte, hob mir ZusammenhĂ€nge ĂŒber den inneren Horizont, die zuvor dahinter verborgen gelegen hatten. Sie machte, dass ich mich fĂŒhlte wie sich meine Hand anfĂŒhlt, wenn sie in den genau passenden Handschuh schlĂŒpft.
Wir trafen uns von da an, zuerst mehr oder weniger zufÀllig, dann zunehmend verabredeter auf unseren Kneipentouren und auf Partys, in den folgenden Wochen immer hÀufiger.
Langsam begann ich in ihren wasserblauen Augen zu ersaufen und trĂ€umte eines Nachts davon, wie meine Finger durch ihr dĂŒnnes, glattes Haar glitten und ihr Kopf in meine Hand sank. Ich traf sie am nĂ€chsten Tag beim Einkauf. Sie schaute mich mit leicht seitlich geneigtem Kopf an, wirkte zuerst ein wenig verdutzt, dann lĂ€chelte sie umarmte mich und flĂŒsterte "ja" in mein Ohr.
Auf die nĂ€chsten Party, fĂŒr die wir locker verabredet waren, kam sie lange nach Mitternacht hereingeschneit, nie werde ich das quitschgrĂŒne Kleidchen mit den knallroten RosenblĂŒten und ihre dĂŒnnen Beinchen in den klobigen schwarzen Springerstiefeln vergessen, die spiddeligen, kurzen Haare mit rosa Schnippgummis zu unzĂ€hligen Zöpfchen gebunden, erinnerte sie am ehesten an eine Mischung aus Pipi Langstrumpf und einem furchtbar verunglĂŒckten Jackson Pollock.
Sie steuerte schnurgerade auf mich zu, baute sich vor mir auf, indem sie die HĂ€nde in die schmalen HĂŒften stemmte und unangemessen laut verkĂŒndete: "Alter, heut Nacht leg ich Dich flach!"
Dann zog sie, den rechten, Stiefel aus, tunkte den nackten Fuss in eine der dafĂŒr von der Wohngemeinschaft bereitgestellte SchĂŒsseln voll Farbe, stĂŒtzte sich auf meiner Schulter ab und drĂŒckte ihren Fuss zwischen all die anderen AbdrĂŒcke, die dort schon an der Wand waren. Dann liess sie sich breitbeinig auf meinen Schoss plumpsen.
Helena nahm mich, wie versprochen, eine Frau, ein Wort.
So wurden wir irgendwie ein Paar, fĂŒr ein paar Monate, denn jeder von uns beiden steckte noch in einer "richtigen" Beziehung.
An dieser wollte sie auch nicht rĂŒtteln ⊠denn Helena war neben ihrem schrankenlos burschikose Auftreten, neben den durchsoffenen und durchgemachten NĂ€chten, neben ihrer kompromisslos liebenswerten Art auch noch praktizierende Christin und sang im Kirchenchor.
Ich hab sie ĂŒbrigens mal singen gehört, ihre Stimme war so klar wie ein Novembermorgen nach einer klirrend kalten Nacht.
Wir versuchen mehrmals, wegen der "richtigen" Beziehungen, mit unseren SchĂ€ferstĂŒndchen und -nĂ€chten aufzuhören. Was sich jedoch als nicht so leicht durchfĂŒhrbar erwies.
Ich erinnere mich, nach einer dieser "vernĂŒnftigen" Trennungen, trafen wir uns zufĂ€llig auf einem Stadtfest, sagten uns artig "hallo", machten ungewohnt erwachsene Konversation miteinander, ĂŒber Bekannte und Jobs und ⊠was weiss ich denn noch. Es fĂŒhlte sich jedenfalls fremd und saublöde an. Dann, der Smalltalk war am versiegen, schauten wir uns an.
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, lÀchelte und nickte. Als NÀchstes sassen wir in einem Taxi, dass uns zu meiner Wohnung fuhr.
"Die Schwerkraft ist ein Scheissdreck, gegen das, was uns zueinander zieht!" sagte sie nachher, als der Morgen graute.
"ja"
"Die Schwerkraft ist ein Scheissdreck, gegen das, was uns zueinander zieht!" sagte sie nachher, als der Morgen graute.
"ja"
Auch Helena hatte mehre Jobs, studierte Malerei und engagierte sich kirchenseits fĂŒr obdachlose Frauen. Ihre "richtiger" Freund, den sie eines Tages heiraten wollte und Kinder mit ihm haben, beanspruchte auch seinen Anteil ihrer Zeit und Energie.
So kam es, dass wir uns tatsÀchlich irgendwann seltener trafen.
Ich begann einen "richtigen" Job, der sich mit meinem nĂ€chtlichen Streunen nicht vertrug und Helena wurde krank und bekam wenig spĂ€ter die Diagnose: LymphdrĂŒsenkrebs.
Sie verkĂŒndete das in gewohnt lauter und liebenswert rĂŒckhaltlose Weise auf der Party zu ihrem 26 Geburtstag.
Sie verschwand von der BildflĂ€che bald danach, in irgendwelche SpitĂ€lern und Therapien. Facebook und Mobiltelefone gab's noch nicht und keiner der Freunde wusste so recht wo sie war und wie es ihr ging. Wir lebten unser Leben weiter und ab und zu erzĂ€hlte mal jemand, was er so ĂŒber sie gehört hatte. Ich blieb meist still, denn mein Herz fĂŒhlte sich jedes Mal an, als sei es auf eine heisse Herplatte gefallen, wenn ich an sie dachte.
Ich hielt Distanz, kĂŒmmerte mich um Job und "richtige" Beziehung und den Rest von dem Zeugs, den man in diesem Alter fĂŒr wichtig hĂ€lt.
Eines Abends klingelte mein Telefon. Helenas Vater, den ich vom Sehen kannte, war dran und bat mich, sie mal zu besuchen. Sie wĂŒrde in den nĂ€chsten Tagen aus dem Spital nach Hause kommen, es gehe ihr Recht gut und sie habe nach mir gefragt.
Sie war noch dĂŒnner geworden, trug eine Marilyn Monroe PerĂŒcke und ihre blassblauen Augen waren noch blasser und unnatĂŒrlich gross.
Trotzdem war sie schön, eine Schönheit die jeden Moment vom Wind weggeweht werden konnte und darum um so kostbarer schien.
"Kack-Chemo" sagte sie und zeigte auf ihre Haarpracht.
Ihr zukĂŒnftiger Ehemann hatte sie verlassen und die eigene Wohnung hatte sie aufgeben mĂŒssen, lebte wieder bei den Eltern.
Ihr zukĂŒnftiger Ehemann hatte sie verlassen und die eigene Wohnung hatte sie aufgeben mĂŒssen, lebte wieder bei den Eltern.
Sie brauche dringend Sex sagte sie mir und mit uns beiden, sei das immer so "nahtlos" gegangen ...
⊠sie sagte tatsĂ€chlich " nahtlos" ⊠und das war das genau richtige Wort dafĂŒr.
⊠sie sagte tatsĂ€chlich " nahtlos" ⊠und das war das genau richtige Wort dafĂŒr.
Ob sie Sonntag zu mir kommen könne, fragte sie, denn hier bei ihren Eltern ⊠" na, ja!"
... aber erst am Nachmittag, ergÀnzte sie, denn morgens wolle sie noch in den Gottesdienst gehen.
Am Sonntag lĂ€utete es sehr frĂŒh an meiner TĂŒr. Als ich völlig verpennt öffnete, stand Helena dort, klein, zart, jetzt mit Baseballcap, statt PerĂŒcke auf dem haarlosen Kopf.
Fast schĂŒchtern sagte sie " ... das mit dem Sex und so weiter" ⊠sie habe sich nun doch entschlossen, zu mir zu kommen, statt der Kirche zu geh'n.
Wir verbrachten einen Tag im Bett und halb angezogen auf dem Balkon mit Kaffe und Kuchen und spÀter mit Pizza, wÀhrend der Regen in den BÀumen rauschte
"Du hattest also die Wahl zwischen dem Lieben Gott und mir?" fragte ich beim Rotwein.
"ja" sagte sie leise und legte den Kopf an meine Schulter.
Dann wollte sie spazieren gehen ...
... das war im August vor 35 Jahren ...
Wir gingen nebeneinander unter ihrem Schirm.
Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in einen MĂŒlleimer.
"Lass uns zusammen durchweichen"
"ja"
Dann wollte sie spazieren gehen ...
... das war im August vor 35 Jahren ...
Wir gingen nebeneinander unter ihrem Schirm.
Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in einen MĂŒlleimer.
"Lass uns zusammen durchweichen"
"ja"
Wir sahen uns noch ab und zu, zwischen Spitalaufenthalten und langem Schweigen lagen wir hin und wieder in einem zerwĂŒhlten Bett. Ihre Eltern gingen aus dem Haus, wenn ich zu Besuch kam ⊠einmal, schon in der HaustĂŒr auf dem Weg nach draussen, umarmte mich ihr Vater. "Scheisse, Mann" sagte er.
Helena ist dann mit nicht mal 30 gestorben, als ich schon weggezogen war aus der Stadt in der wir beide damals lebten.
Ja, es war irgendwie "nahtlos", berĂŒhrend und einfach mit ihr, wie ein Bild von Jackson Pollock.
Und nie wieder hab ich solch ein Kompliment bekommen ⊠wie ihr einfaches, kleines, leises "ja".
...... fĂŒr M.H. đčâïžđ§ââïž |
geschrieben/gepostet am 16./18. August 2019 in Luzern