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Roadtrain ... beim Sandfire Roadhouse, Western Australia |
Vor vielen Jahren sprach ein Freund vom Sehen.
Er erklĂ€rte uns, dass er selber, auch beim Autofahren, das âdefokussierte, geweitete Sehenâ praktizierte.
Dabei macht man genau das Gegenteil vom ĂŒblichen sich Konzentrieren und Starren und Glotzen und bewusst Hinschauen.
Es ist eher ein Loslassen, ein SichHingeben, den Blick weiten, eine Art von schwebender Aufmerksamkeit.
Es erinnert viel mehr an eine Meditation, als an unsere Alltagsaufmerksamkeit. Die Augen sind auf Breitwand eingestellt.
Nichts denken, nichts wollen, nichts erwarten, angstfrei und entspannt in sich selber ruhen.
So bleibt man, wie die eigenen Augen, relaxt und verpasst trotzdem nichts. Mir selber kommts sogar vor, als bekomme ich so viel mehr mit als im `StandartZustand`
Auf meinen Reisen bin ich viele tausend Kilometer gefahren. In dieser Zeit war ich tage- wochenlang - oft monatelang allein auf der Strasse unterwegs, habe nur fĂŒr die profanen Notwenigkeiten angehalten.
Die USA waren wunderbar zum Fahren, vor allem 2013 in der WĂŒste von Nevada war ich, auf den ewigs langen, graden Strassen, mehr als nur glĂŒcklich.
Die Staaten sind zwar weitlĂ€ufiger und, je nach Region, dĂŒnner besiedelt als Europa ...
... der totale Kick war jedoch Australien:
Als ich erstmal aus Sydney und dem relativ europÀischen New South Wales raus war, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu fahren.
Der Sog der Strasse nahm mich mit sich und ich fuhr, abgesehen vom Schlafen usw. 5 Tage durch bis es nicht weiter ging, weil ich mit den VorderrÀdern, irgendwo nördlich von Perth, am Saum des Indischen Oceans stand.
SpÀter ⊠nach ein paar Tagen Ruhe auf einem Campingplatz am Strand, packte mich die Reise- und Fahrsucht wieder
⊠I kept driving 'n' driving âŠ
und ich begann sogar, das Schlafen teils âout-zu-sourcenâ aus der Nacht.
Denn oft fuhr ich bis die Sonne untergegangen war und krabbelte von der LadeflÀche wieder in den Fahrersitz sobald es hell wurde.
So schlief ich, wenn ich wĂ€hrend des Tages, unterwegs, mĂŒde wurde, im Auto, fand eine âTechnikâ, eine Meditation, Ă€hnlich der des âgeweiteten Blicksâ nur eben mit geschlossenen Augen, die mich in wenigen Minuten eindösen liess und mich eben so zuverlĂ€ssig nach ca. 10-15 Minuten wieder weckte. Denn ich durfte nicht lange schlafen, weil der Motor laufen musste um die Aircontion zu betreiben, sonst wĂ€re das Auto zum Bratrohr geworden.
Nach dem Nickerchen war ich jeweils fit fĂŒr die nĂ€chsten paar hundert Kilometer.
So flog ich nach Norden, im Einklang mit dem Wagen, den ich inzwischen
Flat White* getauft hatte und mir selber.
Ich lebte in einer anderen Welt, war mein eigner Herr, traf meine Entscheidungen nach meinem GutdĂŒnken und gab mich ganz meiner Lust und meinen Launen hin. Abgeschnitten von den repressiven Systemen der westlichen Arbeitshaltung galt es neue Strukturen zu erfinden ⊠und das war gar nicht so einfach wie`s vielleicht scheint.
Ich fuhr also mit dem geweiteten Blick, der ĂŒbrigens auch das Herz und den Verstand im VerhĂ€ltnis zu dem, was wir als die "reale Welt" kennen, weitet und fĂŒr Neues öffnet.
Aber auch Vieles was ich tat und dachte war neu, ungewohnt fĂŒr mich und oft fĂŒhlte es sich unausgegoren oder einfach hirnrissig an. Ich dachte damals, mit dieser Fahrerei wĂŒrde ich meine Zeit verschwenden, viel zu wenig sehen vom Land und mich nur stressen.
Das dachte ich, bis ich eines Tages, irgendwo oben in den wunderschönen Kimberleys, auf einer kurvigen und hĂŒgeligen Strasse, in einer sehr langgezogenen, etwas ansteigenden Kurve einen von diesen langen Roadtrains mir entgegenkommen sah.
Er war noch weit weg, erst so gross wie ein Spielzeugauto und ich konnte die Strasse bis zu ihm gut ĂŒberblicken, sah ihre Form und Biegung, den Winkel der Steigung, die seitliche Neigung der Trasse, den Radius der Kurve, nahm die Geschwindigkeit des Trucks und die beginnende KrĂ€nkung des Fahrerhauses relativ zur StrassenoberflĂ€che wahr.
Mein, wochenlang im Modus der schwebenden Aufmerksamkeit trainiertes Hirn sendete plötzlich ein recht entspanntes Warnsignal ⊠ein wenig wie ein Jingle in der Werbung eines Parfums fĂŒr Ă€ltere Damen ... sanft auf einem Klavier gespielt, begleitet von einem Cello ⊠und mir wurde klar, das der Trucker seine Geschwindigkeit und die Biegung der Kurve falsch eingeschĂ€tzt hatte.
In Australien fĂ€hrt man links und ich wusste, er wĂŒrde meine linke Fahrspur auch noch brauchen um die Kurve zu kriegen. Zum Abbremsen war es zu spĂ€t fĂŒr ihn, er hatte 4 AnhĂ€nger hinter sich, die ihn schieben wĂŒrden und ich spĂŒre im meinen Eingeweiden, dass er nicht bremsen wĂŒrde, weil das die Katastrophe perfekt gemacht hĂ€tte.
Ganz ehrlich ... manchmal denke ich mir Geschichten aus oder hab beim Schreiben ein oder zwei GlÀschen getrunken, was meine ErzÀhle ein wenig bunter als die Wahrheit macht.
Aber diesmal ist das nicht so ... es ist mein Ernst und es ist erst kurz nach Mittag und vor 4:00 am Nachmittag trinke ich nie ... also hört gefÀlligst zu! ...
... denn es geschah etwas, dass ich so noch nie jemandem erzÀhlt habe.
Ich sah die Welt um uns herum, fĂŒr, vielleicht ein paar Sekunden, in Zeitlupe, aus der Perspektive des Truckers.
Ich sah, durch seine Augen, Flat White einige hundert Meter am Beginn der Kurve vor ihm, ich spĂŒrte die Neigung seines Fahrerhauses, die IntensitĂ€t der Fliehkraft, die auf seinen Körper wirkte, ich nahm den Beginn des seitlichen Radierens seiner Reifen auf dem Asphalt wahr, wĂ€hrend er das Lenkrad versuchte möglichst eng links zu halten und realisierte seine Weigerung zu Bremsen, sie war gleichzeitig meine eigene Weigerung, in dem beiderseitigen Wissen, dass das den Roadtrain unweigerlich in die EukalyptusbĂ€ume crashen wĂŒrde.
Ich spĂŒrte, er war ein wenig verdutzt ĂŒber seinen Fehler, aber ansonsten entspannt und bereit aus der kommenden Aufprall das Beste zu machen und ich wusste, dass er wusste, dass seine Karten weitaus besser waren als meine.
Dann kam so etwas wie FĂŒrsorge fĂŒr mich in ihm auf.
Ganz ruhig sagte er zu mir:
âFahr auf den Sandstreifen, dort vor dem BĂ€umenâ
Die Vision brach ab ...
... ich schaute nach links ⊠und da war er tatsĂ€chlich, ein vielleicht 15 Meter langer Streifen aus Sand und Kies etwa 30-40 Meter vor mir. Am Ende des Streifens lag ein grosser Haufen schwarzer Steine, jeder davon so gross wie ein Fussball, dahinter stand ein grosser Baum. Ich wusste es wĂŒrde knapp werden und ich wusste aber auch es wĂŒrde passen.
Bloss nicht panisch bremsen jetzt, denn ich fuhr sicher noch 80 Stundenkilometer.
Flat White war schwer und alt und hatte kein ABS.
Er ging unter der Bremswirkung sanft in die Knie, in meinem rechter Fuss fĂŒhlte ich, wie sich die Spannung in der Carrosserie aufbaute und irgendwas in mir wusste ganz genau, wie weit ich es treiben konnte, bevor sie sich entladen wĂŒrde, bevor der Wagen schleudernd ausbrechen wĂŒrde.
Sanft aber kraftvoll, energisch und klar, wie auf einem bockenden Pferd brachte ich ihn dazu die Spur zu halten und trotzdem schnell langsamer zu werden.
Ich wusste, ich durfte erst im letzten Moment auf den Sand fahren, denn dort wĂŒrde ich den Bremsweg nie einhalten können, ich musste ihn vorher so weit abbremsen, dass er friedlich im Sand landete.
Eine Stimme in mir sagte: âGut so mein Junge!â ⊠ich glaube das war nochmals der Trucker, der mein Manöver beobachtete.
Einen Hauch zu schnell brachte ich Flat White in den Sand. Es knallte heftig und all mein GerĂŒmpel flog im Auto herum, als ich die 20 cm vom Strassenbelag auf den Seitenstreifen runterfuhr.
Ich fĂŒhlte der Sand war nicht tief und darunter irgendwas Festes, also traute ich mich etwas saftiger zu bremsen.
In einer StaubfontÀne kam Flat White knapp einen halben Meter vor dem Steinhaufen zu stehen.
Der Roadtrain rauschte, wie vorausgesehen, auf meiner Fahrspur an mir vorbei. Steine prasselten auf die Seite von Flat White wie Hagel.
Dann war alles vorbei. Ich liess mich in den Sitz sinken und der Trucker hupte drei mal langgezogen ⊠seine Art danke zu sagen.
âKein Ding mein Alter!â dachte ich in seine Richtung und wusste, dass er mich hörte.
Was ich aber eigentlich erzĂ€hlen wollte, ist, dass unter der dĂŒnnen Schale der Welt, die wir als real und sicher empfinden, ganz, ganz nahe, nur einen halben Millimeter entfernt, eine andere Wirklichkeit liegt, die nicht einen Deut unwirklicher ist als die, von der wir in unseren westlichen GedankengebĂ€uden, glauben, dass sie die einzig Wahre ist.
Und ich glaube, dass wir unendlich viel Energie darauf verschwenden, diese Illusion, die unsere RealitĂ€t darstellt, aufrecht zu erhalten ... und ich fĂŒrchte, darum sind wir oft so mĂŒde und ausgelaugt und so aggressiv und traurig und, dass vielleicht die zunehmende Zahl von Depressionen auch damit zu tun hat.
Uns gehen unsere TrĂ€ume verloren, weil wir die RealitĂ€t dieses Planeten aus den Augen verloren haben ... denkt mal drĂŒber nach!
Jede Nacht erleben wir diese andere RealitĂ€t, oder dann, wenn wir krank sind oder ein wenig Chemie schlucken oder ein Glas Whiskey, wenn wir geliebt werden oder lieben, wenn jemand stirbt, den wir liebten und einfach weg ist ⊠fĂŒr immer âŠ
⊠und âneinâ ich hab nichts getrunken âŠ
⊠noch nicht! ... denn gleich is 4:00h!
Also ⊠locker bleiben und den Blick weit halten.
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Flat White ... sĂŒdlich von Cooktown, Queensland
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*âFlat Whiteâ ist eine Bezeichnung fĂŒr die Zubereitungsvariante eines Cappuccinos, der in der Regel mit Latte Art verziert wird. Der Name kam in den 1980er Jahren in Australien auf. Er wird in der Regel in einer Cappuccino-Tasse serviert und besteht aus einem Espresso oder Ristretto doppio und feinporig aufgeschĂ€umter Milch. Der auffĂ€lligste Unterschied im Vergleich zum Cappuccino liegt darin, dass ein Flat White einen intensiveren Kaffeegeschmack und eine geringere Milchschaumschicht aufweist.
aus Wikipedia
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Entworfen 7. August ...
... ĂŒberarbeitet und gepostet 13.8. 2019 in Luzern.