13 August, 2019

Viewing

Roadtrain ... beim Sandfire Roadhouse, Western Australia


Vor vielen Jahren sprach ein Freund vom Sehen.

Er erklärte uns, dass er selber, auch beim Autofahren, das „defokussierte, geweitete Sehen“ praktizierte.
Dabei macht man genau das Gegenteil vom üblichen sich Konzentrieren und Starren und Glotzen und bewusst Hinschauen.
Es ist eher ein Loslassen, ein SichHingeben, den Blick weiten, eine Art von schwebender Aufmerksamkeit.
Es erinnert viel mehr an eine Meditation, als an unsere Alltagsaufmerksamkeit. Die Augen sind auf Breitwand eingestellt.
Nichts denken, nichts wollen, nichts erwarten, angstfrei und entspannt in sich selber ruhen.
So bleibt man, wie die eigenen Augen, relaxt und verpasst trotzdem nichts. Mir selber kommts sogar vor, als bekomme ich so viel mehr mit als im `StandartZustand` 

Auf meinen Reisen bin ich viele tausend Kilometer gefahren. In dieser Zeit war ich tage- wochenlang - oft monatelang allein auf der Strasse unterwegs, habe nur für die profanen Notwenigkeiten angehalten.

Die USA waren wunderbar zum Fahren, vor allem 2013 in der Wüste von Nevada war ich, auf den ewigs langen, graden Strassen, mehr als nur glücklich. 
Die Staaten sind zwar weitläufiger und, je nach Region, dünner besiedelt als Europa ...

... der totale Kick war jedoch Australien:
Als ich erstmal aus Sydney und dem relativ europäischen New South Wales raus war, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu fahren. 
Der Sog der Strasse nahm mich mit sich und ich fuhr, abgesehen vom Schlafen usw. 5 Tage durch bis es nicht weiter ging, weil ich mit den Vorderrädern, irgendwo nördlich von Perth, am Saum des Indischen Oceans stand.
Später … nach ein paar Tagen Ruhe auf einem Campingplatz am Strand, packte mich die Reise- und Fahrsucht wieder 
I kept driving 'n' driving … 
und ich begann sogar, das Schlafen teils „out-zu-sourcen“ aus der Nacht. 

Denn oft fuhr ich bis die Sonne untergegangen war und krabbelte von der Ladefläche wieder in den Fahrersitz sobald es hell wurde.
So schlief ich, wenn ich während des Tages, unterwegs, müde wurde, im Auto, fand eine „Technik“, eine Meditation, ähnlich der des „geweiteten Blicks“ nur eben mit geschlossenen Augen, die mich in wenigen Minuten eindösen liess und mich eben so zuverlässig nach ca. 10-15 Minuten wieder weckte. Denn ich durfte nicht lange schlafen, weil der Motor laufen musste um die Aircontion zu betreiben, sonst wäre das Auto zum Bratrohr geworden.
Nach dem Nickerchen war ich jeweils fit  für die nächsten paar hundert Kilometer.

So flog ich nach Norden, im Einklang mit dem Wagen, den ich inzwischen 
Flat White* getauft hatte und mir selber. 
Ich lebte in einer anderen Welt, war mein eigner Herr, traf meine Entscheidungen nach meinem Gutdünken und gab mich ganz meiner Lust und meinen Launen hin. Abgeschnitten von den repressiven Systemen der westlichen Arbeitshaltung galt es neue Strukturen zu erfinden … und das war gar nicht so einfach wie`s vielleicht scheint.

Ich fuhr also mit dem geweiteten Blick, der übrigens auch das Herz und den Verstand im Verhältnis zu dem, was wir als die "reale Welt" kennen, weitet und für Neues öffnet.
Aber auch Vieles was ich tat und dachte war neu, ungewohnt für mich und oft fühlte es sich unausgegoren oder einfach hirnrissig an. Ich dachte damals, mit dieser Fahrerei würde ich meine Zeit verschwenden, viel zu wenig sehen vom Land und mich nur stressen.

Das dachte ich, bis ich eines Tages, irgendwo oben in den wunderschönen Kimberleys, auf einer kurvigen und hügeligen Strasse, in einer sehr langgezogenen, etwas ansteigenden Kurve einen von diesen langen Roadtrains mir entgegenkommen sah. 
Er war noch weit weg, erst so gross wie ein Spielzeugauto und ich konnte die Strasse bis zu ihm gut überblicken, sah ihre Form und Biegung, den Winkel der Steigung, die seitliche Neigung der Trasse, den Radius der Kurve, nahm die Geschwindigkeit des Trucks und die beginnende Kränkung des Fahrerhauses relativ zur Strassenoberfläche wahr.

Mein, wochenlang im Modus der schwebenden Aufmerksamkeit trainiertes Hirn sendete plötzlich ein recht entspanntes Warnsignal … ein wenig wie ein Jingle in der Werbung eines Parfums für ältere Damen ... sanft auf einem Klavier gespielt, begleitet von einem Cello … und mir wurde klar, das der Trucker seine Geschwindigkeit und die Biegung der Kurve falsch eingeschätzt hatte.
In Australien fährt man links und ich wusste, er würde meine linke Fahrspur auch noch brauchen um die Kurve zu kriegen. Zum Abbremsen war es zu spät für ihn, er hatte 4 Anhänger hinter sich, die ihn schieben würden und ich spüre im meinen Eingeweiden, dass er nicht bremsen würde, weil das die Katastrophe perfekt gemacht hätte.

Ganz ehrlich ... manchmal denke ich mir Geschichten aus oder hab beim Schreiben ein oder zwei Gläschen getrunken, was meine Erzähle ein wenig bunter als die Wahrheit macht. 
Aber diesmal ist das nicht so ... es ist mein Ernst und es ist erst kurz nach Mittag und vor 4:00 am Nachmittag trinke ich nie ... also hört gefälligst zu! ...
... denn es geschah etwas, dass ich so noch nie jemandem erzählt habe.

Ich sah die Welt um uns herum, für, vielleicht ein paar Sekunden, in Zeitlupe, aus der Perspektive des Truckers. 
Ich sah, durch seine Augen, Flat White einige hundert Meter am Beginn der Kurve vor ihm, ich spürte die Neigung seines Fahrerhauses, die Intensität der Fliehkraft, die auf seinen Körper wirkte, ich nahm den Beginn des seitlichen Radierens seiner Reifen auf dem Asphalt wahr, während er das Lenkrad versuchte möglichst eng links zu halten und realisierte seine Weigerung zu Bremsen, sie war gleichzeitig meine eigene Weigerung, in dem beiderseitigen Wissen, dass das den Roadtrain unweigerlich in die Eukalyptusbäume crashen würde. 
Ich spürte, er war ein wenig verdutzt über seinen Fehler, aber ansonsten entspannt und bereit aus der kommenden Aufprall das Beste zu machen und ich wusste, dass er wusste, dass seine Karten weitaus besser waren als meine. 
Dann kam so etwas wie Fürsorge für mich in ihm auf. 
Ganz ruhig sagte er zu mir: 
„Fahr auf den Sandstreifen, dort vor dem Bäumen“

Die Vision brach ab ...
... ich schaute nach links … und da war er tatsächlich, ein vielleicht 15 Meter langer Streifen aus Sand und Kies etwa 30-40 Meter vor mir. Am Ende des Streifens lag ein grosser Haufen schwarzer Steine, jeder davon so gross wie ein Fussball, dahinter stand ein grosser Baum. Ich wusste es würde knapp werden und ich wusste aber auch es würde passen. 

Bloss nicht panisch bremsen jetzt, denn ich fuhr sicher noch 80 Stundenkilometer. 
Flat White war schwer und alt und hatte kein ABS. 
Er ging unter der Bremswirkung sanft in die Knie, in meinem rechter Fuss fühlte ich, wie sich die Spannung in der Carrosserie aufbaute und irgendwas in mir wusste ganz genau, wie weit ich es treiben konnte, bevor sie sich entladen würde, bevor der Wagen schleudernd ausbrechen würde. 
Sanft aber kraftvoll, energisch und klar, wie auf einem bockenden Pferd brachte ich ihn dazu die Spur zu halten und trotzdem schnell langsamer zu werden. 
Ich wusste, ich durfte erst im letzten Moment auf den Sand fahren, denn dort würde ich den Bremsweg nie einhalten können, ich musste ihn vorher so weit abbremsen, dass er friedlich im Sand landete.

Eine Stimme in mir sagte: „Gut so mein Junge!“ … ich glaube das war nochmals der Trucker, der mein Manöver beobachtete.
Einen Hauch zu schnell brachte ich Flat White in den Sand. Es knallte heftig und all mein Gerümpel flog im Auto herum, als ich die 20 cm vom Strassenbelag auf den Seitenstreifen runterfuhr. 
Ich fühlte der Sand war nicht tief und darunter irgendwas Festes, also traute ich mich etwas saftiger zu bremsen. 
In einer Staubfontäne kam Flat White knapp einen halben Meter vor dem Steinhaufen zu stehen.

Der Roadtrain rauschte, wie vorausgesehen, auf meiner  Fahrspur an mir vorbei. Steine prasselten auf die Seite von Flat White wie Hagel. 
Dann war alles vorbei. Ich liess mich in den Sitz sinken und der Trucker hupte drei mal langgezogen … seine Art danke zu sagen.
„Kein Ding mein Alter!“ dachte ich in seine Richtung und wusste, dass er mich hörte.

Was ich aber eigentlich erzählen wollte, ist, dass unter der dünnen Schale der Welt, die wir als real und sicher empfinden, ganz, ganz nahe, nur einen halben Millimeter entfernt, eine andere Wirklichkeit liegt, die nicht einen Deut unwirklicher ist als die, von der wir in unseren westlichen Gedankengebäuden, glauben, dass sie die einzig Wahre ist.
Und ich glaube, dass wir unendlich viel Energie darauf verschwenden, diese Illusion, die unsere Realität darstellt, aufrecht zu erhalten ... und ich fürchte, darum sind wir oft so müde und ausgelaugt und so aggressiv und traurig und, dass vielleicht die zunehmende Zahl von Depressionen auch damit zu tun hat. 
Uns gehen unsere Träume verloren, weil wir die Realität dieses Planeten aus den Augen verloren haben ... denkt mal drüber nach!

Jede Nacht erleben wir diese andere Realität, oder dann, wenn wir krank sind oder ein wenig Chemie schlucken oder ein Glas Whiskey, wenn wir geliebt werden oder lieben, wenn jemand stirbt, den wir liebten und einfach weg ist … für immer … 

… und „nein“ ich hab nichts getrunken … 
… noch nicht! ... denn gleich is 4:00h!

Also … locker bleiben und den Blick weit halten.


Flat White ... südlich von Cooktown, Queensland




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*„Flat White“ ist eine Bezeichnung für die Zubereitungsvariante eines Cappuccinos, der in der Regel mit Latte Art verziert wird. Der Name kam in den 1980er Jahren in Australien auf.  Er wird in der Regel in einer Cappuccino-Tasse serviert und besteht aus einem Espresso oder Ristretto doppio und feinporig aufgeschäumter Milch. Der auffälligste Unterschied im Vergleich zum Cappuccino liegt darin, dass ein Flat White einen intensiveren Kaffeegeschmack und eine geringere Milchschaumschicht aufweist.












    



aus Wikipedia

Entworfen 7. August ...
... überarbeitet und gepostet 13.8. 2019 in Luzern.